Mittwoch, 2. November 2011

Menschen – oder: Abreise und Ankunft

Wir werden den Flieger verpassen, denke ich. Seit einer Stunde quälen wir uns auf der verstopften 5. Ringstrasse um Peking, mittlerweile kurz vor der Auffahrt zum Airport Highway. Eine Stunde und zwanzig Minuten vor planmäßigem Abflug. Und es wird so sein, wie immer, denke ich. Wenn man es braucht, sind die Flieger nie verspätet. Wenn man es auf keinen Fall gebrauchen kann, sind sie es meistens.

Levi schnarcht im Maxicosi neben mir. Der Fahrer bleibt entspannt und gibt dennoch alles. Er tänzelt mit dem Auto zwischen allen vier Spuren hin und her, um bloß nicht stehen bleiben zu müssen. Chinesen überholen rechts und links, egal wie dicht der Verkehr ist. Sie fahren eng auf. Schießen auf die nächste Spur, ohne zu blinken oder erst den Blinker setzend, wenn sie schon fast auf der anderen Spur angekommen sind. Mich wundert, dass ich nicht mehr Unfälle gesehen habe, schießt es mir durch den Kopf, als wir uns an meinem ersten chinesischen Auffahrunfall vorbeischlängeln, in dessen Rahmen sich zwei Paare gegenüberstehen, die eine Frau wild schreit und gegenüber der anderen Dame handgreiflich wird. Von wegen chinesische Gelassenheit. Überhaupt scheinen Chinesen weitaus expressiver ihren Gefühlen Ausdruck zu verleihen, als ich es erwartet habe. Beispielsweise bei den Verhandlungen im Replika Market. Ein Nein des potentiellen Käufers wurde meistens mit einem Sprung auf ihn zu und einem Schwall teils beleidigter, teils weinerlicher Worte begleitet, die Hände nicht selten in den potentiellen Käufer verkrallt, um ihn doch noch von der Ware oder auch nur von dessen Kauf zu überzeugen.

Als wir eine Stunde und fünf Minuten vor Abflug den Flughafen erreichen geht alles gewohnt perfekt und schnell: der Lufthansa Schalter ist fast leer, aber das Personal noch da. Der Kinder- und Versehrten Schalter bei der Pass- und Sicherheitskontrolle funktioniert erneut, d.h. auch hier sind wir entgegen aller anderer Erfahrungen – an manchen Flughäfen wie München beispielsweise gibt es derartige Schalter gar nicht, an anderen wie beispielsweise LA drängen sich auch hier kinderlose und unversehrte Personen – innerhalb weniger Minuten durch. Auch mit dem mitgeführten Babyessen und Wasser gibt es keine zeitfressenden Probleme – während ich diesbezüglich beispielsweise in Hamburg, München oder Barcelona jedes Mal quälend lange teils aggressive Diskussionen oder Extrakontrollen über mich ergehen lassen muss. Absolut begeistert vom Pekinger Flughafen stehe ich am Gate, bevor das Boarding überhaupt begonnen hat. Also nutzen wir den Spielplatz gegenüber unseres Gates und spielen so gedankenversunken, dass wir dann doch noch fast den Flieger verpassen.

Im Flugzeug begeistert uns zunächst der leere Platz neben uns und die Flugbegleiter und Flugbegleiterinnen. Sie bringen den Schlafkorb für Levi gleich nach dem Start, sagen die. Und ob wir Babygläschen brauchen – Obst oder Fleisch. Und dass ich nur Bescheid geben soll, wenn ich mich frisch machen möchte oder einfach so mal eine Pause benötige – sie kümmern sich gerne um Levi. Entspannt verteile ich unser Gepäck über, unter und neben uns. Drapiere das Spielzeug in den verschiedenen Ecken und Winkeln des Sitzes und des Nebensitzes, während Levi es sich zu meinen Füßen bequem macht und alles mit wachen Augen beobachtet. Ich muß daran denken, wie nervös ich vor meinem ersten Flug mit Levi war. Und wie glatt dann alles ging. Und geht. Meistens. Die zwei negativen Erfahrungen beim Fliegen, die ich mit Levi bisher zu bewältigen hatte, waren hausgemacht durch meines Erachtens unsensible Flugbegleiter.

Beim ersten Mal saß ich auf einem Lufthansa Flug von Hamburg nach München am Fenster und hatte Levi auf dem in der Business Class freibleibenden Mittelplatz festgeschnallt. So wie ich es immer gemacht hatte, wenn Markus dabei war und auf dem zu unserer Reihe gehörenden Gangplatz saß. Diesmal nahm dort ein uns unbekannter Mann Platz. Er lächelte uns freundlich an und gab keinen Anlass zur Annahme, dass irgendetwas an unserer Sitzkonstellation nicht in Ordnung sei. Die Purserin des Fluges beugte sich über den schlafenden Levi, wackelte an seinem Maxicosi und fragte nach dem Flugtauglichkeitsaufkleber. Ich antwortete freundlich und bestimmt, dass der sich an der Unterseite des Sitzes befindet und ich ihr den gerne beim Aussteigen zeige, jetzt aber nicht bereit sei, mein schlafendes Kind zu wecken und den Cosi wieder abzuschnallen. 

Sie zog ab, um nach wenigen Sekunden wieder vor unserem Sitznachbarn zu stehen und mich nach meinem Ticket für Levi zu fragen. In einem Tonfall, der sowohl Levi aufweckte als auch mich langsam in einen Zustand ärgerlicher Erregung zu versetzen begann. Ich ließ Levis Schlafhand los, kramte nach dem Ticket. Levi wachte auf. Ich gab das Infant-Ticket an die Dame, sie verschwand, um nach 30 Sekunden erneut vor unserer Reihe zu stehen, und mich zu fragen, ob ich ein vollbezahltes Business Class Ticket für Levi hätte. Da platzte mir der Kragen. Innerlich. Ich antwortete, dass sie besser wissen müsste, als ich, dass Kinder unter 2 Jahren kein vollbezahltes Ticket benötigen und wenn ich eines gekauft hätte, Levi nicht in der Mitte, sondern auf dem Gangplatz sitzen würde und was sie eigentlich genau von mir wolle. Wieso? fragte die Dame. Vermutlich in echtem Erstaunen. Ich betrachtete das Gespräch für beendet, sie verließ uns, um nach 30 Sekunden erneut zu erscheinen, Levi anfing zu weinen und sie in einer Lautstärke durch den Flieger quakte: es ginge hier um den Buisnessclasscomfort meines Gangplatznachbarn und er hätte schließlich dafür gezahlt, dass der Mittelplatz frei bliebe. Aha. Hätte sie ja auch gleich sagen können. Ich hob den plärrenden, weil in seinem Schlaf gestörten Levi aus seinem Cosi, versuchte ihn zu beruhigen und gleichzeitig meinen Sitznachbarn zu fragen, ob er sich in seine Sitzkomfort gestört fühle und wenn dem so sei ich selbstverständlich den Cosi abbauen würde. Der lächelte mich freundlich an und sagte: Ich habe selber zwei Kinder, ich freue mich über seine Gesellschaft, lenkte Levi mit einigen gekonnten Grimassen vom Plärren ab und schickte die ungeschickte Flugbegleiterin in ihr seelenloses Getränkeparadies. Aber mit meiner inneren Ruhe war es vorbei. Und das spürte Levi und somit hatten wir einen denkwürdig unruhig-anstrengenden Flug.

Mit gleicher Airline auf gleicher Strecke gab es einige Wochen später in Begleitung von Markus eine recht ähnliche Situation. Wir hatten gerade das Flugzeug betreten, wurden wie so oft von den im Eingangbereich aufgereihten Mitarbeitern, die sich über ihr Leben unterhielten, statt die Gäste zu begrüßen, erst eines Blickes gewürdigt, als sie den von mir getragenen Maxicosi samt Levi wahrnahmen. Unsanft griff der diesmal männliche Purser an den Henkel des Cosi, so dass dieser nach hinten kippt und Levi fast hinauspurzel, und sagt in einem Ton, den ich mir von Kindergärtnerinnen gegenüber Levi verbitten würde: das geht aber nur ausnahmsweise. Und lächelt dazu süßlich gönnerhaft. Wie er das meine, fragte ich nur äußerlich entspannt zurück. Der Flieger sei sehr leer, sonst sei für den Maxicosi kein Platz. Ich würde den immer zwischen mir und meinem Mann auf dem Mittelsitz befestigen. Ob ich denn ein vollbezahltes Ticket hätte für das Baby. Ich entgegnete dem Mann, dass es doch die Entscheidung meines Mannes und mir sei, was wir auf den sonst leerbleibenden Sitz zwischen uns transportieren würden. Hinter uns stauten sich die Menschen. Der Purser schaut mich fragend an. Ich bat ihn, seine Hand nun endlich von meinem Maxicosi zu entfernen, was er mit beleidigter Miene tat, setze mich in die nur einen guten Meter entfernte Reihe 3 und kochte. Ich kann es überhaupt nicht vertragen, wenn wildfremde Menschen in unguter Absicht Levi berühren. Oder auch nur seinen Sitz. Ach, Sie reisen Business Class. Der Purser versucht ein Lachen. Wusste ich ja nicht. Wäre vielleicht eine sinnvolle erste Frage gewesen, gab ich zurück. Direkt nach einem Herzlich Willkommen, empfahl ich schnippisch. Warum ich so unfreundich sei, fragte dieser Typ mich doch glatt. Um es abzukürzen, wir hatten noch einige überflüssige Wortwechsel, selbst nach dem Start, während der Getränkeausgabe, einfach ständig suchte der Mensch uns mit seinen Diskussions- und Entschuldigungsversuchen heim. Hat Levi nicht gefallen. War auch ein unruhiger Flug. Was ich sagen will: es hängt fast ausschließlich von den uns umgebenden Menschen ab, ob ein Flug genial, normal oder furchtbar verläuft.

Mit Levi ist es noch einmal schwieriger für mich, mich von unserem Umfeld stimmungsmäßig abzukoppeln. Und das merkt der kleine Kerl. Und so war es ja auch in der Transsib oder am Baikalsee. Mit und wegen Olga, Rita, Maryanna oder Natascha hatten wir die schönsten Momente unserer Reise. Wegen dieser Menschen – alles Frauen, fällt mir gerade auf – haben wir den gesamten Zug, Sibirien, den Baikalsee in schwärmerisch-schöner Erinnerung. Als ich noch ohne Levi reiste, fiel es mir leichter, mich von den negativen Einflüssen anderer Menschen abzugrenzen. Mit ihm ist das gar nicht so leicht. Vielleicht weil ich mich mit ihm nicht so in mich zurückziehen kann, wie alleine.

Andererseits lerne ich alleine reisend oder mit Markus nicht so viele Menschen so leicht und intensiv kennen, wie mit Levi. Levi ist wie ein Bindeglied zwischen mir und den Anderen. Im Guten wie im Schlechten.

Während ich so nachdenke und Levi mit meinen mittlerweile nur noch bestrumpften Füßen spielt, will sich ein Mann in meinem Alter neben uns setzen. Ich schaue ihn fragend an, er nickt, ich räume Levis Spielzeug zur Seite, er setzt sich. Ich dachte der Sitz bleibt frei, weil ich ein Kinderbett bestellt habe, dass ja dann auch vor Ihnen hängt, begrüße ich den Neuankömmling. Es tut mir leid für Sie, schiebe ich nach. Ich bin von der Eco upgegraded worden, lacht er mich an.  Ich denke, deshalb denkt Lufthansa, muß ich da durch. Ich habe den Businessflug per Meilen erstanden, will ich mich mit dem netten Menschen verbünden, lasse es dann aber.

Nach dem Start muß ich mich unter Levis Bett durchducken, dabei auf allen Vieren über die Füße und Beine meines Sitznachbarn klettern, meistens gelingt es mir nicht, ihn dabei nicht zu berühren. Ich entschuldige mich jedes Mal, er sagt jedes Mal, dass er das Lufthansa Business Konzept diesbezüglich nicht verstünde, da es für mich ja schon eine unangenehme Situation sei. Ist es wirklich. Und ob ich mit ihm den Platz tauschen möchte. Er ist Italiener und hat 3 Kinder. Alle noch jung. Er hilft mir, Levis Flaschen vorzubereiten, fängt gekonnt von Levi umgeworfene offene Gläschen oder Spielzeug auf und beweist sich auch als guter Levi-Entertainer. Und schenkt mir so die eine oder andere Minute Entspannung.

Mir fällt dazu der Venezianer ein, den ich im Zubringerbus zum Flieger nach Venedig auf dem Flughafen München kennengelernt habe. In Deutschland herrschte Unwetter, Markus saß in Düsseldorf fest und ich hatte mich entschieden, ohne ihn mit Levi zu fliegen, nachdem ich herausgefunden hatte, dass die Flüge am folgenden Tag fast ausgebucht waren und Markus einen Platz auf der 6 Uhr Frühmaschine gesichert hatte. Da ich das gesamte Gepäck für uns Drei dabei hatte, war ich latent überfordert. Das haben natürlich alle Mitreisenden mitbekommen, aber nur dieser Italiener hat seine Hilfe angeboten. Er habe Zwillinge und hat auch schon gemerkt, dass Deutsche was Kinder angeht eher nicht hilfsbereit seien. Stimmt, sage ich. Auch Schwangeren gegenüber nicht. Ich erzählte ihm die Geschichte eines Events, das ich als Gastgeber in meinem Geobuchladen hochschwanger anmoderierte. Meine Mitarbeiter hatten vergessen, mir für später einen Sitzplatz zu reservieren und keiner meiner Gäste bot mir einen Platz an, so dass ich 90 Minuten stehen durfte. Ich hätte heulen können, so enttäuscht war ich von meinen Gästen.

Der Venezianer erzählte mir seinerseits seine Erfahrung im Münchner Flugzeugzubringerbus. Er stand, wie wir damals, mit seiner Frau, den Zwillingen und Gepäck im Bus und schaffte, als der Bus am Flieger hielt, nur einen Teil des Gepäckes herauszuheben. Kurz bevor er den Bus wieder betreten wollte, um die zweite Ladung zu holen, schloß der Busfahrer die Tür und brauste davon. Als der Italiener es dann vor Abflug noch schaffte, den übereifrigen Fahrer zurück zu ordern blaffte dieser unseren freundlichen Italiener an, er solle halt weniger Gepäck mitnehmen oder mit den Babys gleich zu Hause bleiben.
Selbiger Italiener half mir nicht nur, das Gepäck im Flieger zu verstauen, es mir in Venedig bis zum Kofferband zu tragen, meinen Gepäckwagen bis zur Wassertaxivermittlungsstelle zu schieben, sondern rettete mich erneut, da es um 23 Uhr und zur besten Biennale-Zeit keine Wassertaxen mehr am Flughafen gab. So was gibt es nur in Italien, entschuldigte er sich bei mir. Die Wassertaxifahrer hatten aufgrund der Biennale Hochsaison tagsüber genug verdient und beschlossen, an diesem Abend etwas früher Schluss zu machen. Wie ich denn jetzt nach Venedig käme, fragte ich die Dame an dem nutzlosen Wassertaxivermittlungsstand. Es gäbe einen Bus. Und ab dem Hauptbahnhof dann ein Wassertaxi. Oder das Linienboot. Aber da müsste ich umsteigen. Beides, sowohl Bus als auch Umsteigen würde ich mit dem Gepäck und Levi alleine nicht schaffen, sagte mein venezianischer Schutzengel. Doch doch, sagte ich, da helfen mir bestimmt wieder Menschen. Ich wollte seine Hilfsbereitschaft nicht überstrapazieren. Aber er bestand darauf, mich mit seinem Auto bis zu einer Stelle in Venedig zu kutschieren, an die er ein Wassertaxi bestellen konnte, in das er mich samt Gepäck setzte und alles Gute wünschte. Ich war absolut angetan von so viel Hilfsbereitschaft.  So etwas habe ich in Deutschland noch nienienie erlebt. Aber seitdem halte ich noch mehr als sonst die Augen offen, ob ich jemandem helfen kann. Und um den deutschen Schnitt zu heben.

Und jetzt habe ich wieder das Glück, einen familienfreundlichen Italiener neben mir zu wähnen. Aber 10 Stunden sind lang. Und so krabbelt Levi mehrmals an den Beinen desselbigen vorbei und den Gang des gesamtes Flugzeuges auf und ab, bleibt bei einigen ihn anlächelnden Menschen sitze und beginnt ein Gespräch. Andere, insbesondere die, die sich besonders um seine Gunst bemühen, lässt er links liegen. Zweimal greift er daneben und versucht Menschen, die wirklich gar keine Lust auf ihn haben, um den Finger zu wickeln. Dort greife ich ein und lotse ihn weiter. Ansonsten lasse ich ihm und den anderen ihren Spaß und beobachte aus der Ferne. Was für ein selbstbewusstes kommunikatives freundliches kleines Kerlchen, denke ich stolz. Und meine Augen werden feucht. Wie er sich wohl in München nach diesen ganzen tollen Erfahrungen behaupten wird? Ob ihm der Alltag zu Hause genauso viel geben kann, wie unsere Erlebnisse unterwegs? Ob wir auch in München alten und neuen spannenden Menschen so intensiv begegnen können, wie denjenigen, denen wir in den letzten Wochen unterwegs begegnen durften?
Und vor allem: Ob die Menschen zu Hause unser Leben genauso prägen können, wie die Menschen unterwegs unser Leben, unsere Gefühle die letzten Wochen geprägt haben?

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Montag, 31. Oktober 2011

Kindererziehung auf chinesisch


Heute eröffnet das Kinderhaus, commune of the children. Gäste können hier mit ihren Kids ab 0 Jahren spielen oder sie zur Betreuung abgeben. Abgeben möchte ich Levi an diesem letzten Tag unserer gemeinsamen ersten großen Reise nicht. Das passt nicht. Aber ich möchte ihm gerne den Spaß ermöglichen, mit anderen - chinesischen - Kindern zu toben. Denn er weiß ja nicht, dass wir morgen nach München zurückfliegen. Und ich mich deswegen ein bißchen sentimental fühle. Also los. 

Nach unserem gemeinsamen Frühstück, in dessen Rahmen Levi den gesamten Boden in einem Radius von 1 Meter um seinen Babysitz herum voll krümelt und versucht, mit Chop Sticks den Obstsalat aufzuspießen stehen wir in strahlender Sonne und kühler frischer Bergluft vor einem weißen einstöckigen Gebäude mit mosaikbesteintem Pool ohne Wasser und riesigem weißen Betonklotzschild mit der Aufschrift: Commune of the children.

Levi krabbelt mehrmals um den Betonklotz herum, um sich dann dem Rasen zu nähern. Vorsichtig hebt er an der Grenze zwischen Stein- und Grasfläche eine Hand. Schaut mich an. Ich nicke zustimmend und lache ihn dazu ermutigend an. Er zieht die Hand wieder weg. Das wiederholt sich geschätzte 148.000 Mal. Bis er sich ein Herz fasst, die Hand absinken lässt und die Grasspitzen streichelt. Um dann loszuspeedkrabbeln. Über den gesamten Rasen. Laut juchzend.
Den Charakterzug kenne ich an ihm mittlerweile sehr gut. Beim ersten Mal wird alles, was ihm neu erscheint vorsichtig beäugt und erst einmal abgelehnt. Um sich nur Sekunden später wieder anzunähern. Und es doch noch einmal zu probieren. So ist er mit allem. Beim Essen, beim Spielen, bei Menschen. Erst einmal vorsichtig. Und dann stürmisch.

Durch unsere gemeinsame Reise habe ich viele seiner Charaktereigenschaften und Eigenarten intensiv kennengelernt. Und auch gemerkt, dass es Seiten an ihm gibt, zu denen ich keinen Zugang habe. Da will er für sich sein. Wie jetzt zum Beispiel. Er sitzt auf dem Rasen, lässt sich die Sonne ins Gesicht scheinen und macht scheinbar gar nichts außer „nachzudenken“. Und ich frage mich zum wiederholten Male, was wohl in ihm vorgeht. Denn er macht das öfter. Einfach so dasitzen. Gedanken versunken. Dann ist er mir ein Stück weit fremd. Oder anders ausgedrückt: dann ist mir ganz klar, dass dieser kleine Kerl auch ein Eigenleben hat, zu dem ich keinen Zugang habe. Das mich auch gar nichts angeht. Und ich frage mich, ob das so bleibt. Oder ob die unbekannten Seiten mit seinem zunehmendem Alter eher zu- oder abnehmen. Vermutlich beides?

Natürlich habe ich derartige Momente auch vor unserer Reise schon erlebt. Aber hier, in dieser Intensität unseres Zusammenseins sind mir eben auch die abgrenzenden Erlebnisse, die sowohl ich als auch er – offensichtlich, wenn ich ihn so alleine vor sich hin sinnierend beobachte – brauchen, sehr bewußt geworden. Und so sehr ich ihn liebe, genauso sehr vermisse ich diese Momente für mich. Ein bißchen habe ich die natürlich, nach seinem Rhythmus, denn ich setzte mich jetzt auch in den Rasen, in einiger Entfernung zu Levi, blinzle in die Sonne und denke darüber nach, warum diese Reise die Erste ist, bei der ich auch ein kleines bißchen froh bin, dass sie morgen zu Ende geht. Normalerweise habe ich das nie. Aber vermutlich genau deswegen. Oder anders ausgedrückt: würden wir weiterreisen, bräuchte ich für eine Woche Wärme, einen Strand, einen Ort an dem wir verweilen könnten und eine Person, die hie und da mal auf Levi aufpasst. Danach wäre ich wieder fit für „die Straße“. Denke ich.

Bevor es zu sentimental wird stürmen wir das Innere der Kinderkommune. Im Erdgeschoß finden wir eine Kinderküche, aus der es nach frisch gebackenen Keksen duftet. Und die üblichen Wasch-, Toiletten- und Schlafräume in Zwergengröße. Selbstgemalte Bilder an den Wänden. Rasseln und mit Miniaturkuhglocken ausgestattete Armbänder in Kisten unter mit bunten Kissen verzierten Sitzbänken. Malstaffeleien und einige Tische mit kleinen Holzstühlen drum herum zum Malen und Knetgummi formen. Alles so, wie ich es aus schon vor Levis Geburt besichtigten Kitas in München kenne. Wobei die Helligkeit und Großzügigkeit dieser Kita hier schon herausragt.

Nachdem Levi sich an den Rasseln und Glocken ausprobiert hat gehen wir in den zweiten Stock. Da sei eine Babyecke, sagt uns eine der zwei Betreuerinnen, die derzeit außer Kekse zu backen nicht viel zu tun haben, denn neben Levi spielt nur noch eine scheinbar geistig leicht behinderte 12jährige hier. Leider zeigt sie bisher kein Interesse an uns, also los, zur Babyecke.

Oben laufen wir zuerst auf eine kleine in weißem Holz gehaltene Kinderteeecke zu. Ein Tisch, einige kleine Hocker, Kinderteegeschirr, 5 bunte traditionelle chinesische Lampen darüber. Rechts davon befindet sich wieder eine weiße Tisch-Stuhlecke auf pinkem Teppich und mit roten und rosafarbenen Kissen bestückt. Auf dem Tisch und den umrahmenden Regalen sind Kuchen, Besteck, Teller, Küchengeräte – alles aus Holz – drapiert. Einige Meter weiter finden wir eine ähnliche Ecke, nur auf grünem Teppich und mit grünen und blauen Kissen. Auf dem Tische und den Regalen warten Autos, Züge, Pistolen – auch wieder aus Holz – auf die Fantasie der kleinen Besucher. Ich setzte den mittlerweile ungeduldig zappelnden Levi auf den Boden. Der krabbelt schnurstracks zur pinken Ecke, um mit konzentriert gespitzten Lippen in ein zwanzigminütiges Kuchenbackspiel zu versinken.

Derartig nach Geschlechterrollen getrennte Bereiche sind mir in den Münchner Kitas nicht aufgefallen. Ob hier Mädchen und Jungs getrennt spielen, oder ob Jungs und Mädchen sich vermischen und nur für unterschiedliche Aktivitäten unterschiedliche Räume haben? Oder stolpere nur ich mit meiner betont emanzipatorisch geprägten Erziehung über diese Anordnung.  Also: warum ist die Küche nicht blau und der Zug rot? Oder ist das völlig wurscht? Für Levi scheint es derzeit noch so zu sein.
Die Babyecke ist voller Plastikschaukelfantasiefiguren, die einem japanischen Komik entsprungen scheinen: Knallfarben, große runde Kulleraugen, irgendwie spacig. Pinke noppige Bälle von der doppelten Größe eines Fußballs können von Levi mühelos durch die Gegend geschleudert werden – da sie nichts zu wiegen scheinen. Levi ist begeistert. Und wackelt abwechselnd zwischen den Platikfantasielassies und dem pinken Ball hin und her.

Am hinteren Ende des Raumes finden wir den Videoraum: Zwei riesige Plasmafernseher an der Wand, Stuhlreihen davor, ein Regal voller DVDs und CDs. Mehrere Fernbedienungen. 13 Tugenden zum Mitsingen und Auswendig lernen. Chinesisch und Englisch. Steht auf einer CD, die meisten anderen sind mit für mich unleserlichen chinesischen Schriftzeichen bemalt.

Am anderen Ende des Raumes finden wir die Verkleide-Dich Ecke. An der Wand ein großes gemaltes Bild von der Welt, mit China in der Mitte und den beiden Schlappohren Nord- und Südamerika zur rechten und Europa mit Afrika zur linken Seite. Sieht lustig aus, die Welt so zu sehen. Unter der Welt sind gemalte Paare abgebildet. In traditioneller Bekleidung: Chinesen mit Reishut und roten Seidengewändern; Holländer mit gelbem Haar, Holzschuhen und blau-weißer Bekleidung. Amerikanische Cowboys und –girls. Mittelalterlich anmutende Italiener. Peruaner, die mit Panflöte ausgestattet auch in unseren Einkaufsstraßen sitzen könnten. Keine Deutschen, leider.
An der Wand daneben eine Kleiderstange mit den dazu passenden Kostümen. Levi greift sich den chinesischen Hut und fängt an, daran herum zu kauen.
Zu gerne würde ich ihn hier inmitten chinesischer Kinder spielend beobachten. Aber leider bleiben wir neben der Zwölfjährigen, die zwar einige Male nach uns geschaut hat, aber dann doch nicht, trotz aufmunternder Winksignale meinerseits, zu uns gekommen ist, die alleinigen Besucher.

Kaum haben wir dieses Kinderparadies der irgendwie bekannten und irgendwie auch unbekannten Art verlassen, da fallen Levi die Augen zu. Und schenkt mir so eine Stunde Zeit in der Sonne. Reisen ist doch mit das Beste, was ich in meinem Leben machen kann, denke ich zufrieden und hoffe, dass es für Levi genauso schön war.

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Donnerstag, 27. Oktober 2011

Stella, oder: Einkindpolitik und weitere Familienmodelle

Levi und ich sitzen auf der Terrasse des Commune by the Wall Restaurants und loungen in der Mittagssonne. Nach den realen und emotionalen Abenteuern der letzten Tage und Wochen ist mir irgendwie nach mit der Sonne um die Wette strahlen. Zum Glück scheint es Levi ähnlich zu gehen. Er erkrabbelt sich in aller Gemütlichkeit die verschiedenen Blumenbeete, die nach Provence duften und nach Südfrankreich mit einem Schuss chinesischer Gartenkunst aussehen: alles ist thymianig-buschig, durchzogen von lila und dunkelrosefarbenen Blüten, gekrönt von bambusartigen Wedeln, die mich an Sylter Strandgras erinnern.  Und es duftet nach Lavendel mit einer Prise Zitronengras. Hmmmm.

Ganz weit im Hintergrund meines Bildauschnittes sehe ich die chinesische Mauer – also mit Ecken verzierte Bergkuppen. Gerade als ich anfange den intensiven Kontakt zu anderen Menschen zu vermissen, so wie wir ihn im Zug, oder mit Natasha am Baikalsee, aber auch in der Mongolei mit den Campmanagerfamilien und anderen Gästen erlebt haben und darüber nachdenke, dass ich uns für den Abschluß unserer Reise noch eine Unterkunft mit chinesischem Familienanschluß suchen sollte, steht Stella vor mir. Levi sei soooo cute! sagt sie. Dann kniet sie sich vor ihn hin, breitet die Arme aus und erwartet, dass er zu ihr geflogen kommt. Macht er aber nicht. Sie spielt die fröhlich Beleidigte und versucht es immer und immer wieder. Dann fragt sie, ob wir was bestellen mögen. Es gibt Wasser und Gemüse für Levi sowie einen Tee für mich.

Als sie alles vor mir aufgebaut hat, greift sie Levi und entführt ihn zu einem besonders schönen Blumenbeet. Für den kam der Überfall so blitzartig, dass er nicht mal Zeit hatte, sich zu beschweren. Nur seine kritische Stirnfalte kann ich aus der Entfernung noch erkennen. Als ich schwanger war, habe ich es mir genauso vorgestellt. Einfach so weiterleben wie bisher. Nur bereichert durch ein Kind. Reisen, andere Leute kennenlernen. Lesen in der Sonne, das Kind spielt daneben. Markus und ich arbeiten fast normal weiter, nur genauso viel weniger, wie wir es eh reduzieren wollten. Suuuuper, dachte ich darum, als ich schwanger war. Jetzt wird alles noch schöner, relaxter und das Baby ist halt mit dabei.
Und nun sitze ich hier, mit Levi, an der chinesischen Mauer. Die Transsib mit abenteuerlichen Stopps am Baikalsee und in der Mongolei liegen hinter uns. Aber: der Schritt dahin war nicht so einfach, wie gedacht, denn: ich kannte niemanden, der so lebt, wie ich es mir gewünscht habe. Und das verunsichert schon. Insbesondere, wenn das Baby dann da ist. Und Viele davon berichten, dass von nun an alles anders sei. Und insbesondere Reisen erst mal unmöglich sei. Es sei denn, man will zur Ostsee. Oder maximal auf die Kanaren.

Aber auch der Alltag zu Hause: Irgendwie schwebte mir mehr oder weniger bewußt das skandinavische Modell vor: Mann und Frau arbeiten halb- bis dreivierteltags, kümmern sich gemeinsam, und haben Hilfe beispielsweise in Form von Babysittern, um auch Zeit für sich und füreinander zu haben. Nur leider kenne ich so wenig Menschen, also eigentlich niemanden, der so lebt. Und daher habe ich immer gezweifelt, ob es funktionieren kann. Für mich. Für uns.

Wieviele Kinder ich habe, fragt Stella und unterbricht meine Grübelei. Levi sitzt auf ihrer Hüfte und rupft an einer Blume herum.  Eines, sage ich, dankbar für die Unterbrechung. Stella nickt verständnisvoll. In China haben auch viele Menschen nur ein Kind, sagt sie. Und: Aber einige Menschen hätten gerne mehr. Wieviele Kinder sie denn möchte, frage ich. Sie lacht. Ich weiß nicht, sagt sie. Keines, eins oder zwei.

Im Moment wird in China diskutiert, die Ein-Kind-Politik zu Gunsten einer Zwei-Kind-Politik aufzugeben, habe ich gelesen. Überalterung droht und Probleme bei der Rentenversorgung. Außerdem führt die Ein-Kind-Politik zu schwierigem Sozialverhalten bei den Kinder-Königen, die bis zur Einschulung von ihren Eltern total verwöhnt und dann mit übermäßig ehrgeizigen Plänen traktiert werden. Schule, Musik, Sport, Forschungsprojekte. Keine Zeit für Freunde oder Spielen. Meist geht mit der Verwöhnung auch zu viel Essen und somit zunehmende Fettleibigkeit einher, habe ich gelesen. Außerdem fehlen geschätzten 20 % der jungen Männer eine Frau, da Söhne bei der bisher vorherrschenden Politik bevorzugt wurden und so Mädchen abgetrieben, weggegeben, ich will gar nicht darüber nachdenken, wurden. 
Also sind chinesische Männer eine echte Alternative für westliche weibliche Dauersingles?
Chinesische Männer seien sehr verwöhnt, sagt Stella.  Von ihren Müttern. Will sie deswegen vielleicht keine eigenen Kinder? Ich träume davon zu reisen, sagt sie. Und mit Kind sei das doch sicher schwierig? Ach sage ich, das geht schon. Man muß es einfach machen, dann findet sich vieles. Und lächle sie an.

Aber ich verstehe die Ängste dieser jungen chinesischen Frau.

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Samstag, 22. Oktober 2011

Bloß weg aus Peking

Wir müssen weg. Raus aus diesem Hotel. Aus dieser Stadt. Irgendwohin, wo keine schönen gemeinsamen Erinnerungen mit Markus an jeder Ecke lauern. Zu irgendeinem Ort, der Platz für neue schöne Abenteuer bietet.

Wohin?

Fliegen möchte ich nicht. Zu schnell zu weit. Zugfahren möchte ich aber auch nicht mehr. War perfekt, wie es war. Und Lhasa liegt für Levi sowieso zu hoch. Fahrt ins Commune by the Great Wall, schlägt Frederic vor. Levi war zu ihm rübergekrabbelt. Ich habe eine Tochter im selben Alter, hat er sich vorgestellt. Er ist Schwede und Unternehmensberater. Die Luft ist heute extra dunstig und färbt ganz Peking traurig grau. Mir fällt das Atmen schwer, also verabschieden wir uns, um uns virtuell dem Commune zu nähern:

„Auf der einen Seite ist es ein Hotel – auf der anderen Seite eine Kunstausstellung. Denn auf dem Gelände des „Commune by the Great Wall“ stehen Werke von zwölf asiatischen Architekten. Die Villas mit Namen wie „Koffer-Haus“, „Flughafen“, „Die Zwillinge“ oder „Wald-Haus“ wurden 2002 bei der Biennale in Venedig ausgestellt und preisgekrönt. Heute kann man sie einfach nur anschauen oder gleich darin übernachten. Vom Hotel aus führt ein Privatweg zur Chinesischen Mauer...“

Klingt perfekt. Also los. Taxi organisieren, packen, auschecken. 1,5 Stunden später stehe ich enttäuscht in unserem neuen Zimmer und würde am liebsten sofort zurück nach Peking. Wir stehen in einem ganz normalen schlicht-spartanisch gestalteten Zimmer ohne Blick, dafür mit scharfkantigen, weil abgebrochenen Badezimmermöbeln und eiskaltem Betonboden. Kurz bevor ich mich damit abfinden möchte fällt mir meine alte Stärke wieder ein: Hotelzimmer wechseln, bis ich das für mich perfekte gefunden habe.


Also zurück zur Rezeption, unserer Enttäuschung Ausdruck verleihen, die Optionen klären. Es gibt nicht viele. Das architektonische Highlight, die Bambushäuser, werden gerade alle renoviert. Gleiches gilt für fast alle Cantilever Häuser, bis auf zwei. In denen wohnen jedoch die Teilnehmer eines Firmenevents. Ein Zimmer sei darin noch frei. Ansonsten noch ein Zimmer im Forrest House. Das sei ganz nah am hoteleigenen Kindergarten, Commune for the children. Der sei aber leider bis übermorgen noch geschlossen.

Hmmmm.

Das Prinzip ist also Housesharing. In jedem der Häuser sind 4-10 Zimmer mit eigenem Bad. Wohnzimmer, Küche und Terrassen werden geteilt. Das kann ganz spannend sein, denke ich. So treffen wir wenigstens ein paar Chinesen. Birgt aber auch Risiken, befürchte ich beim Gedanken an einige mir bekannte feucht fröhliche Firmenevents.

Mit einem schwarz gekleideten jungen Chinesen ziehe ich los zur Zimmerbesichtigung. Die wächst sich zu einer schönen Wanderung durch das weitläufige hügelige bewaldete Gelände und gleichzeitig spannenden Architekturschau aus: vorbei an zwei Bambushäusern, bei denen langstielige Bambusse mal hochkant, mal querkant gegeneinander verbaut sind, so dass spannende Lichteffekte entstehen, inspizieren wir jetzt ein vogelhausähnliches rotes Betonhaus mit riesiger Dachterrasse und voller chinesischer Männer, die ihrerseits interessiert und belustigt auf Levi und mich schauen. Scheint eine Ingenieursfirma zu sein, die hier firmeneventet. Das Zimmer ist schön, warmer Holzboden, riesiges Bett, Badewanne, toller Blick über die Berge. Das Haus bietet darüber hinaus einen riesigen offenen Wohnbereich mit hohem Luftraum über zwei Etagen, eingerahmt von einer fast komplett verglaster Fassade. Irgendwie erinnert mich dieses Haus an die moderne Architektur der 60er Jahre. Beton gemischt mit Bonbonfarbe und eco-bohemian Chic. Jeden Moment könnte James Bond alias Sean Connery um die Ecke geschlendert kommen und um einen Martini bitten. Gerührt natürlich. Witzig, dass das moderne chinesische Architektur aus dem Jahre 2002 ist. Asiatisch wirkt hier in meinen Augen gar nichts. Aber futuristisch auch nicht. Alles ist total gemütlich. Natur und Wohnraum verschmelzen. In Südfrankreich oder im Hinterland von Los Angeles würde ich diese Architektursiedlung verorten.

Alternativ ist da das Forrest House. Für uns alleine. Ein schmaler hoher weißer, dreistöckiger Betonbau. Der Wohnbereich mit einem kuscheligen Sofa und zwei Sesseln und der eine Ebene darüber befindliche Küchen- und Eßbereich sind offen gehalten, weiß und riesig. Der Eßbereich ist von einem hüfthohen Gelände eingefasst, unter dem der Wohnbereich liegt. Vom Eßbereich führt eine steile 30-stufige Treppe in unser Schlafzimmer. Von der obersten Stufe hat man einen schönen Blick über die reisterrassenartige nach hinten unten versetzte Anordnung von Küche, Ess- und Wohnbereich. Levis Paradise. Denn er liebt Treppenkrabbeln über alles.

Das erste Mal seit langem bin ich wieder völlig unentschlossen. Schöner finde ich das Cantilever House. Aber die Firmenveranstaltung und meine Vorurteile über chinesische Männer unter Einfluß von Alkohol sprechen dagegen. Die Einsamkeit des Waldhauses macht mich aber auch nicht an. Das Herz sagt Cantilever, aber mein Mut ist nicht groß genug. Enttäuscht gebe ich mich meinem Verstand geschlagen und nehme den Schlüssel des Forrest House entgegen.

Auf meine Frage, was ich denn hier machen könne, antwortet die Dame an der Rezeption: Tennis spielen. Als ich sie auf die chinesische Mauer anspreche rät sie ab: zu steil für Levi. Und unrenoviert. Also gefährlich.
Neben tanzen und shoppen hilft vielleicht auch etwas Gutes zu essen, hoffe ich. Die Restaurants liefern nicht ins Zimmer, sagt die Rezeptionistin.

Irgendwie ist hier alles kompliziert, denke ich, als Levi auf meinem Schoß eingeschlafen ist und ich an den Seefood Dumplings herumknabbere, die mir der nette Kellner aus dem chinesischen Restaurant dann doch in eine chice braune Papiertäte mit rotem Sterne Logo und schwarzem Commune Schriftzug eingepackt hat.

Mal schauen, was der Tag morgen so bringt, smse ich an Markus.

Freitag, 21. Oktober 2011

Markus fliegt nach Hause



Der Flieger geht um 13.20 Uhr.  Jetzt ist es 10 Uhr. Levi schläft. Markus Tasche ist gepackt. Wir haben in unserem Zimmer gefrühstückt. Die Welt soll bloß noch draußen bleiben. Wenn nur die Zeit nicht laufen würde...




Es wäre toll zu Dritt weiterzureisen, sage ich. Markus schaut mich traurig und lachend zugleich an. Das stimmt wohl, sagt er. Aber seine Pläne in Deutschland lassen das nicht zu. Und außerdem ist das ja auch ein Mutter-Sohn-Projekt. Und Markus ist „nur“ der Vater. Aber diejenige, die das Projekt steuert, kann ja auch die Regeln ändern, oder? Mann, warum müssen schöne Ideen so weh tun??

Heulend stehe ich an der geöffneten Hotelzimmertür, als der Lift klingelt, Markus darin verschwindet und der Mann, der gerade aus dem Nebenzimmer heraus eilt, mich mitleidig anschaut. Als die Tür klickend ins Schloß fällt, wacht Levi auf. Ich hebe ihn aus dem Bett und laufe auf den Balkon, um Markus noch im Taxi verschwinden zu sehen. Auch Levi macht eine lange Nase. Das Taxi biegt zweimal links ab und verschwindet hinter der baumumrahmten Straße. Es ist 11 Uhr 15 und die Wahrscheinlichkeit, dass Markus in 2 Stunden wieder an unsere Tür klopft, weil er den Flieger verpasst hat ist gar nicht so klein.

Ob wir nur noch zu Dritt verreisen sollten? Zumindest so lange? Wenn es mir so schwer fällt, obwohl ich es rationalisieren kann, wie fühlt sich Levi wohl, wenn er seinen Vater mehrere Wochen nicht sieht?  Aber jetzt sind es ja nur noch einige Tage. Eine gute Woche. 10 Tage, um genau zu sein. Komisch, in St Petersburg ist uns der Abschied doch auch nicht so schwer gefallen?

Lass uns schwimmen gehen, schlage ich Levi vor. Erstens macht uns beiden das Spaß und zweitens ist es im Pool normal, ein nasses Gesicht zu haben. Der Pool, der Levi in den letzten Tagen mit Markus zusammen zum Quiecken brachte, sobald er ihn sah, kann ihm heute nur einen fragenden Blick entlocken. Als ich ihn wie Markus die Tage zuvor durch das Wasser gleiten lasse planscht er nicht wie verrückt, sondern kann sich nur zu ein paar müde lässig langsamen Arm- und Beinschlägen überreden lassen. Also wieder hoch ins Zimmer, mit unserem neuen Lieblingslied auf den Lippen: Ohne Papa macht schwimmen keinen Spaß mehr, oooohneeee Paaaaapaaaa macht schwiiiimennn keinen Spaaaaß meeeehr!!!
Zwei Dinge helfen meistens bei akuter Traurigkeit: Tanzen und Shoppen! Also stelle ich die Lautsprecher meines Laptops auf maximale Lautstärke und tanze mit Levi zur in Irkutzk durchs britische MTV inspirierte Käufe von Dance Titeln: Seek Bromance ist unser Lieblingsstück.

Nachdem gegen 13 Uhr der Anruf kommt, dass Markus den Flieger erwischt hat, laufen Levi und ich los zum Replica Market. Wie verletzte Tiger ziehen wir unruhige Kreise in dem vierstöckigen übervollen Gebäude, bis uns eine junge Chinesin überzeugt ausgerechnet an ihrem Taschenstand stehen zu bleiben. Sie spricht deutsch. Sehr gutes deutsch. Und damit wickelt sie Levi um den Finger. Oh, Du bist ja ein süßer kleiner Mann, sagt sie zu ihm. Levis Augen leuchten. Mann Levi, die will Dir doch nur was verkaufen! Aber Levi ist Feuer und Flamme. Wie alt bist Du denn, fragt sie fast akzentfrei. Und aus welcher Stadt kommst Du? Sie hat Deutsch an einer Sprachschule gelernt, sie interessiere sich für andere Länder, beantwortet sie meine Frage. Levi zupft schon an zwei der drei Taschen herum, die sie ihm vor die Nase hält. Wenn es nach ihm ginge, würden wir beide nehmen, so strahlt er. Mir gefällt außer der netten Verkäuferin leider wirklich gar nichts in ihrem Sortiment, und daher verabschieden wir uns freundlich und gehen langsam weiter. 

Ich zupfe Levis Mütze zu recht, die Klimaanlagen sind wirklich kühl eingestellt heute, da höre ich ein in für meine Ohren in perfektem Französisch geführtes Verkaufsgespräch. Und die Stimme kommt mir sehr bekannt vor. Ungläubig drehe ich mich um und sehe unsere Verkäuferin, wie sie mit einem französischen Paar parliert. Jetzt bin auch ich von dieser jungen Chinesin restlos begeistert. Nicht nur, dass mir in Peking bisher kaum Chinesen begegnet sind, die Englisch auch nur annähernd so gut sprachen, wie diese Frau Deutsch und Französisch. Und sie spricht bestimmt auch Englisch, daran habe ich keinen Zweifel. Aber sie arbeitet darüber hinaus in diesem Markt. Also wirklich gar nichts deutet auf eine hilfreiche Herkunft oder Ähnliches hin. Eine junge Selfmadefrau. Wow.

Meine emotionale Phase muss die Verkäuferin des Standes, vor dem wir jetzt stehen bemerkt haben, und bestimmt manövriert sie mich mitten hinein in ihr Produktparadies aus gefälschten Chanels, Pradas und Chloes. Da ich aufgrund der vorangegangenen Ereignisse des Tages immer noch wie ein angeschossenes Reh in die Welt schaue, schaffe ich den Absprung nicht, sondern begutachte halbherzig einige Taschen. Eine gefiele mir im Original tatsächlich und das merkt sie. Was ich zahlen will dafür, fragt sie in gebrochenem Englisch. Nichts, sage ich, Ich brauche keine Tasche. Sie tippt einen Preis in den Taschenrechner. 1280 Juan, also ca 100 Euro. Ich lache. Neinneinnein. Und will gehen. Sie hält mich fest. Ich stutze. Sie hält mich wirklich physisch fest. Die 150cm kleine Person versperrt mir doch tatsächlich den Ausgang, hält mir den Taschenrechner unter die Nase. Ich soll was eintippen.Will ich aber nicht. Ich will gehen. Sie lässt nicht locker. Lachend tippe ich 300 ein. Sie schimpft, fuchtelt mit den Armen, ich will gehen. Jetzt hält sie Levi fest, der im Björn um meinen Körper geschnallt ist. Ich habe keine Lust die Situation eskalieren zu lassen, oder meinerseits körperliche Gewalt einzusetzen, also sage ich, dass ich kein Interesse an der Tasche habe. Woraufhin sie die Tasche einpackt und die 300 haben will. Und mich als Verkaufsargument am Arm festhält. Ich zahle, der Quetschekasten wird geöffnet und Levi und ich dürfen fast unversehrt passieren.
Wir erholen uns vor dem Wasserspiel gegenüber des Porsche Show Rooms, beobachten, wie chinesische Kinder versuchen, durch die Fontänen hindurchzulaufen, ohne naß zu werden. Ohne großen Erfolg. Aber Levi lacht und scheint zufrieden. Ich kaufe noch ein Oberteil in einem regulären Geschäft. Statt  der ausgezeichneten 2.000 Juan wird es mir für 800 angeboten -  verstehe einer die Verkaufsstrategien der Chinesen. Danach Essen wir was auf unserer schönen Hotelterrasse, um wenig später wie betäubt ins Bett zu fallen.

Um 24 Uhr klingelt mein Telefon: ich bin gelandet, sagt Markus. Warst Du wirklich heute Mittag noch hier? frage ich zurück.

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Mittwoch, 19. Oktober 2011

Great Wall oder: Manchmal beneide ich mich schon um mein Leben mit Dir...


So habe ich mir das nicht vorgestellt. Eigentlich hatte ich gar keine Vorstellung. Kein abrufbares Foto im Kopf. Nichts. Nur die nebelige Idee einer schnurgeraden grauen massiven Mauer. Was ich da gerade aus den Augenwinkeln erspähen konnte sah anders aus. Gigantisch. Kühn. Verrückt.
Wie eines der Sieben Weltwunder eben.

Leider war der Augenblick nur kurz und jetzt sind da nur noch Berge ohne Mauer. Aus dem Autofenster, aus dem ich seit 1,5 Stunden herausschaue, während Levi neben mir schläft und Markus vorne mit dem Fahrer parliert. Auf chinesisch-englisch. Die Mauer saß auf den Bergen. Ganz oben. Sie fuhr die gesamte Topographie der  Landschaft nach. Wie ein Höhenweg oder Klettersteig, der, egal wie steil und unwegsam, den Bergkamm nie verlässt. Keinen Millimeter. Deshalb hatte ich zuerst nicht realisiert, dass ich sie sah. Mich hatte nur gewundert, dass die eine der Bergketten so eckig war, so gar nicht organisch rund, wie all die anderen Bergkämme. Die Mauer fiel steil ab, um dann wieder steil aufzuragen, alle paar hundert Meter ein viereckiger massiver Turm. Aufgeregt rutsche ich auf der Rückbank hin und her.

Eigentlich sollte die Fahrt 3 Stunden dauern. Aber von meiner Tibetreise vor einigen Jahren weiß ich, dass Chinesen die Angewohnheit haben, die Autobahn direkt vor die Haustür der mystischen Sehenswürdigkeit zu bauen. Und so wundert es mich nicht, dass wir auf einer nagelneuen dreispurigen Straße, die selbst das Naviagationssystem noch nicht kennt und unser virtuelles Auto ins elektronische Nirwana sausen lässt - aber immerhin immer das Ziel direkt im Visier – nach einer Stunde und fünfunddreisig Minuten durch einen Tunnel unter der Mauer durchbrausen, um 5 Minuten später vor dem Visitors Center Jingshalin auszusteigen.

Der Fahrer ist nervös. Wir wollen alleine von Jingshaling nach Simatai laufen, oben auf der Mauer, und er soll uns in Simatai wieder aufgabeln. Die Mauer ist aber kurz vor Simatai wegen Renovierungsarbeiten gesperrt. Ein Engländer, den Levi im Hotel kennengelernt hat, hatte uns jedoch versichert, dass die Stelle passierbar und es very obvious sei, wo man runter nach Simatai käme.

Also los. Wir nehmen den klapprig grünen Gondellift, der uns in 17 Minuten die 150 Höhenmeter zum Startpunkt auf der Mauer ruckelt. Der Guide, der uns unbedingt begleiten will, ist gegen Bezahlung von 100 Juan schnell abgewimmelt, die wenigen Menschen, mit denen wir Jingshalin heute teilen, sind nach dem ersten steilen Aufstieg von 200 Stufen auch verschwunden und so haben wir bei unserer ersten Pause nach 90 Minuten diesen Wahnsinn aus grauem Stein für uns alleine.

Wir sitzen auf einem abschüssigen Stück unrenovierter Mauer und vor uns breitet sich schier unendlich die graue massive Steinschlange aus. Wir sehen eine spitze Linkskurve, gefolgt von einem steilen Anstieg und einer Rechtskurve, der sich ein längeres gerades leicht abfallendes Stück anschließt. Danach verliert sich die Mauer in rhythmischem hügeligen Auf und Ab in der diesigen Ferne. Das helle Grau der Mauer, das blasse Dunkelgrün der darunter verlaufenden Bäume und der sandfarbene Untergrund vermischen sich mit dem Graublau der Luft zu einer Zeitmaschine, die uns in das China des 12.-15. Jahrhunderts zurückversetzt.
Wie viele Menschen wohl am Bau der Mauer beteiligt waren? Und wie viele Soldaten hier gelebt haben in den Türmen, und auf dem kopfsteinbgepflasterten Boden patroulliert sind. Wie heute in fast jedem Turm eine fliegende Händlerin sitzt und Kaffee, Cola und Wasser anbietet so haben ihre Vorgängerinnen die Soldaten versorgt.

Je weiter wir laufen, desto ursprünglicher und verwitterter wird die Mauer. War in Jingshalin der Bodenbelag noch eben und die Mauerbegrenzungen absturzsicher hoch werden die Steine auf denen wir laufen zunehmend zur Stolperfalle und seitliche Begrenzungen fehlen zum Teil komplett. Oder sind 20 cm hoch. Das ist insbesondere bei steil ansteigenden Wegpassagen neben der körperlichen Anstrengung auch wirklich emotional herausfordernd. Denn: Dahinter wartet ein Abhang aus 10-12 Meter hoher Mauer und ebenfalls meist steil abfallendem felsig-sandigem Berg.

Levi knabbert Melone und klettert los. Die Mauer wieder hoch, die wir gerade runtergeklettert sind. Er hält auf die schießchartenähnlichen Löcher zu, mit denen die Wandbegrenzung an dieser Stelle in Bodennähe durchzogen sind. Irgendwann wird er müde und schläft seelig in seinem Babybjörn, in dem ich ihn die wenigen weiteren Millionen Treppenstufen herauf- und heruntertrage.

Immer und immer wieder setzen auch wir uns hin und staunen. Die bröckeligen grauen Steine verströmen eine enorme Kraft und einen klaren Machtanspruch. Selbst heute noch. Die schiere Unendlichkeit der Mauer suggeriert eine gigantische Größe des dahinterliegenden ehemaligen Reiches. Unmißverständlich. Wie gigantisch muß das Bauwerk damals erst gewirkt haben.

Ein chinesischer Mann wird erst durch den Besuch der Mauer zum richtigen Mann, hat Mao proklamiert. Und so pilgern Millionen Chinesen fast täglich zur Mauer, insbesondere in der Gegend um Badaling. Hier zwischen Jingshalin und Simatai ist davon zum Glück nichts zu merken.

Ich würde gerne mehrere Tage auf der Mauer wandern, zelten, rumsitzen. Zwei Schilder mit der Aufschrift Campsite sehen wir während unserer Tageswanderung. Wie weit man dafür absteigen muß können wir leider nicht erkennen. Ohne Levi würden wir das machen.

Mit ihm treffen wir kurz vor Simatai eine 10-köpfige Gruppe junger Chinesen, die ihn und seine Lastenträgerin umjubeln, als hätten wir den Mount Everest bezwungen. So fühle ich mich auch, aber woher wissen die das? Sie machen Fotos von uns und zwicken Levi in die Wange und in den Fuß, was er stoisch erträgt. Wir machen unsererseits Fotos davon, wie die Chinesen sich in unterschiedlichen Posen – meist hüpfend und die Arme hochwerfend und yeah rufend – fotografieren. Und genießen das unwirkliche Gemeinschaftsgefühl, das dabei entsteht.

Die Gegenwart hat uns nach 7 Stunden historischer Auszeit wieder. Schweigsam und erfüllt von diesem erhabenen unwirklichen Erlebnis sitzen wir 45 Minuten später im Auto unseres erleichterten Fahrers und brausen gen Peking.

Zweieinhalb Stunden später feiern wir im super stylishen japanischen Restaurant Bei mit einem friedlich vor sich hin schnarchenden Levi Sushi inmitten einer zum Teil kreativ zum Teil klassisch zurechtgemachten Mischung aus Chinesen und Expatriates den intensiven Tag und Markus letzten Abend.

Manchmal beneide ich mich schon selbst, sagt Markus.
Um mein Leben. Mit Dir.

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Dienstag, 18. Oktober 2011

Art district 798 – chinesische Kreativität


Jetzt erst mal etwas essen! Durch den zunehmend dicker werdenden Dunst Pekings haben wir uns mit einem normalen Taxi, bei dem wieder der Gurt nicht um Levis Kindersitz passet und ich ihn deswegen im Björn umgeschnallt und mit Sitzgurt um uns beide herum doppelt gesichert in 45 Minuten zum Art District 798 fahren lassen. Levi hüstelte und auch ich musste mich jogimäßig auf meine Atmung konzentrieren und mir immer wieder sagen, dass die Luft nicht zu dick zum Einatmen ist. Sein kann. Hoffentlich.

Der Art District 798 ist ein von BMW und anderen großen Firmen gesponsortes, von der Architektur des Bauhaus inspiriertes, riesiges modernes Kunstprojekt über zwei komplette Straßenzüge im Dashanzi Viertel Pekings. Auf diesem ehemals staatlichen Fabrikgelände leben und arbeiten seit 2002 zunehmend Künstler und Architekten. Das Viertel wird bevölkert von Designstudios, Gallerien, Restaurants, Bars und kleinen Shops. Auf der dazugehörigen website fallen Begriffe wie sohoesque und loftliving und entsprechend neugierig sind wir.

Auf der Suche nach einem Restaurant laufen wir im Schwarm riesiger Menschenmassen durch die von aus Beton und rotem Ziegel gebauten Fabrikgebäude geprägten Künstlerstraßenzüge. Immer wieder durch lautes Autohupen dazu gezwungen, noch enger zusammenzurücken und uns an die backsteingemauerten Gebäude zu drängen, denn: die Straßen sind zum Teil sehr schmal, Fußgängerwege gibt es nicht immer und: nicht alle Chinesen lassen sich wie wir zu Fuß treiben und von der Intuition in die unterschiedlichen Ateliers spülen. Manche haben einen Plan, fahren vor, steigen aus, besichtigen, steigen wieder ein und brausen weiter. Es scheint gemeinhin akzeptiert, dass der Stärkere, in dem Fall die Autos, Vorfahrt genießen. Hupen reicht,  gebremst wird unter keinen Umständen.

Aufgrund meiner gefühlten Atemnot, dem aufsteigenden Hungergefühl und meiner Abneigung gegen Menschenknäuel und Körperkontakt zu Fremden werde ich zunehmend aggressiv. Auch deswegen kommt mir die von roten Ziegeln umrahmte Terrasse des in einer kleinen Lagerhalle mit Industriecharme untergebrachten Restaurants wie das Paradies vor. Vor uns brutzeln zwei Hotpots, Töpfe aus Metall, unter denen ein kleines Feuer lodert und alles richtig heiß hält. Scharf und fettig. Wir halten uns die Bäuche, brauchen Cola und Kaffee, um unsere westlichen Mägen wieder zu beruhigen und fühlen uns geerdet genug, um mit dem Strom aus Asiaten die Kreativität Pekings zu entdecken.

In jedem Hinterhof finden wir eine Ausstellung, hinter jeder Ecke eine kleine Gallerie. Wir kommen mehr und mehr in einen Rausch aus Architektur, die mich euphorisch stimmt und Kunst die mal inspiriert, mal kalt lässt, mal Ablehnung hervorruft.

Zum Beispiel diese Halle, die überquillt von bunten Blumen. Die Wände, der Boden, selbst von der Decke herunter hängen die bunten Blüten. Bei genauer Betrachtung erkennen wir, dass es sich um Soldatenpuppen mit Gewehren handelt, die da blumenüberzogen von der Decke baumeln und im Raum stehen. Blumiger Soldat vor blumigem Hintergrund. Levi zupft an den Blüten und ist damit in guter Gesellschaft: unsere chinesischen Mitbesucher stellen sich mitten rein in die blumige Kunst, stecken den Soldaten Zigaretten hinter die Ohren und in den Mund, um sich mit dem obligatorischen Peace-Zeichen daneben ablichten zu lassen. Die Aufpasser scheint es nicht zu stören, niemand verscheucht die Menschen aus dem Kunstwerk. Und zum wiederholten Male frage ich mich, wer sich eigentlich diese Milliarden von Fotos anschaut, die täglich von chinesischen Kameraträgern geschossen werden.

Als nächstes finden wir schwarze Skulpturen, allesamt untersetzte nackte Männer in unterschiedlichen Posen: auf einem Stier, hinter einem Pferd, alles irgendwie erschlagend sexualisiert, alles emotionale Selbstbildnisse des anwesenden Künstlers um die 50, der die Presse und weitere Gäste mit Getränken und Canapees bewirtet und mit roten Wangen und breitem Lachen vor den Skulpturen posiert. Auch mir drückt er ein Glas in die Hand. Und Levi zwickt er in die Wange.



Oder auch der Raum voller digitaler Spiegel, die abwechselnd laut scheppernd zerbrechen. Habe ich vor einigen Monaten schon auf dem Biennale Gelände in Venedig bewundern können.

Immer wieder kommen wir zu dem Hauptplatz zurück, zum ursprünglichen Fabrikgelände 798, da wo alles begann. Ein riesiger Platz, umrahmt von Fabrikgebäuden, und einem alten Lastenkran. Es fühlt sich für mich an wie New York oder ein zum sich kreativen Ort evolvierendes Arbeiterviertel des alten Europa, aber auf keinen Fall wie China. Wie kann es sein, dass es so etwas hier gibt. In Peking?

Es würde nach Barcelona passen, oder London, oder Marseille, vielleicht auch Hamburg, bestimmt Berlin, aber hier? Er kann sicher mit Arsenale in Venedig mithalten, ist aber um ein vielfaches Gigantischer. Und auf der anderen Seite: warum gibt es so etwas, zumindest in dieser Dimension und Perfektion nicht an den genannten Orten?

Ich brauch eine Pause. Und ein Glas Wein.

Dass der ganze Ort von chinesischen Massen bevölkert ist und chinesische Schriftzeichen an den Fassaden prangen gibt dem ganzen eine surreale Note. Ist das wirklich echt?

Fällt es nur mir schwer, komplett dem kreativen inspirierten Rausch zu verfallen, der mich umhüllen würde, wäre dieses Gelände in Barcelona oder New York? Also: ist mir die chinesische Inspiration und Kreativität einfach nicht so zugänglich, oder existiert sie hier nicht. Zumindest nicht so richtig? Obwohl ja eigentlich alles, was man dafür braucht, hier ist. Und es mich auch sehr fasziniert. Und gleichzeitig nicht so richtig reinlässt. Innerlich kommt nicht wirklich etwas in Gang bei mir. Ich fühle mich wie ein Kind, dass sich die Nase am Schaufenster des geschlossenen Süßigkeitenladens platt drückt.

Wir sitzen im At Cafe, es dämmert, um uns herum deutsche, brasilianische, englische und chinesische Wortfetzen. Levi schläft. Und ich möchte gerne wieder herkommen, zu diesem für mich bisher faszinierendsten, widersprüchlichsten Ort Pekings.

Auf meiner Suche nach chinesischer Inspiration.

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