So habe ich mir das nicht vorgestellt. Eigentlich hatte ich
gar keine Vorstellung. Kein abrufbares Foto im Kopf. Nichts. Nur die nebelige
Idee einer schnurgeraden grauen massiven Mauer. Was ich da gerade aus den Augenwinkeln erspähen konnte sah
anders aus. Gigantisch. Kühn. Verrückt.
Wie eines der Sieben Weltwunder eben.
Leider war der Augenblick nur kurz und jetzt sind da nur
noch Berge ohne Mauer. Aus dem Autofenster, aus dem ich seit 1,5 Stunden
herausschaue, während Levi neben mir schläft und Markus vorne mit dem Fahrer
parliert. Auf chinesisch-englisch. Die Mauer saß auf den Bergen. Ganz oben. Sie fuhr die
gesamte Topographie der Landschaft nach.
Wie ein Höhenweg oder Klettersteig, der, egal wie steil und unwegsam, den
Bergkamm nie verlässt. Keinen Millimeter. Deshalb hatte ich zuerst nicht realisiert, dass ich sie sah. Mich hatte
nur gewundert, dass die eine der Bergketten so eckig war, so gar nicht
organisch rund, wie all die anderen Bergkämme. Die Mauer fiel steil ab, um dann wieder steil aufzuragen,
alle paar hundert Meter ein viereckiger massiver Turm. Aufgeregt rutsche ich auf der Rückbank hin
und her.
Eigentlich sollte die Fahrt 3 Stunden dauern. Aber von
meiner Tibetreise vor einigen Jahren weiß ich, dass Chinesen die Angewohnheit
haben, die Autobahn direkt vor die Haustür der mystischen Sehenswürdigkeit zu
bauen. Und so wundert es mich nicht, dass wir auf einer nagelneuen dreispurigen
Straße, die selbst das Naviagationssystem noch nicht kennt und unser virtuelles
Auto ins elektronische Nirwana sausen lässt - aber immerhin immer das Ziel
direkt im Visier – nach einer Stunde und fünfunddreisig Minuten durch einen Tunnel
unter der Mauer durchbrausen, um 5 Minuten später vor dem Visitors Center
Jingshalin auszusteigen.
Der Fahrer ist nervös. Wir wollen alleine von Jingshaling
nach Simatai laufen, oben auf der Mauer, und er soll uns in Simatai wieder
aufgabeln. Die Mauer ist aber kurz vor Simatai wegen Renovierungsarbeiten
gesperrt. Ein Engländer, den Levi im Hotel kennengelernt hat, hatte uns jedoch
versichert, dass die Stelle passierbar und es very obvious sei, wo man runter
nach Simatai käme.
Also los. Wir nehmen den klapprig grünen Gondellift, der uns
in 17 Minuten die 150 Höhenmeter zum Startpunkt auf der Mauer ruckelt. Der
Guide, der uns unbedingt begleiten will, ist gegen Bezahlung von 100 Juan
schnell abgewimmelt, die wenigen Menschen, mit denen wir Jingshalin heute
teilen, sind nach dem ersten steilen Aufstieg von 200 Stufen auch verschwunden
und so haben wir bei unserer ersten Pause nach 90 Minuten diesen Wahnsinn aus
grauem Stein für uns alleine.
Wir sitzen auf einem abschüssigen Stück unrenovierter Mauer
und vor uns breitet sich schier unendlich die graue massive Steinschlange aus.
Wir sehen eine spitze Linkskurve, gefolgt von einem steilen Anstieg und einer
Rechtskurve, der sich ein längeres gerades leicht abfallendes Stück anschließt.
Danach verliert sich die Mauer in rhythmischem hügeligen Auf und Ab in der
diesigen Ferne. Das helle Grau der Mauer, das blasse Dunkelgrün der darunter
verlaufenden Bäume und der sandfarbene Untergrund vermischen sich mit dem
Graublau der Luft zu einer Zeitmaschine, die uns in das China des 12.-15.
Jahrhunderts zurückversetzt.
Wie viele Menschen wohl am Bau der Mauer beteiligt waren?
Und wie viele Soldaten hier gelebt haben in den Türmen, und auf dem
kopfsteinbgepflasterten Boden patroulliert sind. Wie heute in fast jedem Turm
eine fliegende Händlerin sitzt und Kaffee, Cola und Wasser anbietet so haben
ihre Vorgängerinnen die Soldaten versorgt.
Je weiter wir laufen, desto ursprünglicher und verwitterter
wird die Mauer. War in Jingshalin der Bodenbelag noch eben und die Mauerbegrenzungen
absturzsicher hoch werden die Steine auf denen wir laufen zunehmend zur
Stolperfalle und seitliche Begrenzungen fehlen zum Teil komplett. Oder sind 20
cm hoch. Das ist insbesondere bei steil ansteigenden Wegpassagen neben der
körperlichen Anstrengung auch wirklich emotional herausfordernd. Denn: Dahinter
wartet ein Abhang aus 10-12 Meter hoher Mauer und ebenfalls meist steil
abfallendem felsig-sandigem Berg.
Levi knabbert Melone und klettert los. Die Mauer wieder
hoch, die wir gerade runtergeklettert sind. Er hält auf die
schießchartenähnlichen Löcher zu, mit denen die Wandbegrenzung an dieser Stelle
in Bodennähe durchzogen sind. Irgendwann wird er müde und schläft seelig in seinem
Babybjörn, in dem ich ihn die wenigen weiteren Millionen Treppenstufen herauf-
und heruntertrage.
Immer und immer wieder setzen auch wir uns hin und staunen.
Die bröckeligen grauen Steine verströmen eine enorme Kraft und einen klaren
Machtanspruch. Selbst heute noch. Die schiere Unendlichkeit der Mauer
suggeriert eine gigantische Größe des dahinterliegenden ehemaligen Reiches.
Unmißverständlich. Wie gigantisch muß das Bauwerk
damals erst gewirkt haben.
Ein chinesischer Mann wird erst durch den Besuch der Mauer
zum richtigen Mann, hat Mao proklamiert. Und so pilgern Millionen Chinesen fast
täglich zur Mauer, insbesondere in der Gegend um Badaling. Hier zwischen
Jingshalin und Simatai ist davon zum Glück nichts zu merken.
Ich würde gerne mehrere Tage auf der Mauer wandern, zelten,
rumsitzen. Zwei Schilder mit der Aufschrift Campsite sehen wir während unserer
Tageswanderung. Wie weit man dafür absteigen muß können wir leider nicht
erkennen. Ohne Levi würden wir das machen.
Mit ihm treffen wir kurz vor Simatai eine 10-köpfige Gruppe
junger Chinesen, die ihn und seine Lastenträgerin umjubeln, als hätten wir den
Mount Everest bezwungen. So fühle ich mich auch, aber woher wissen die das? Sie
machen Fotos von uns und zwicken Levi in die Wange und in den Fuß, was er
stoisch erträgt. Wir machen unsererseits Fotos davon, wie die Chinesen sich in
unterschiedlichen Posen – meist hüpfend und die Arme hochwerfend und yeah
rufend – fotografieren. Und genießen das unwirkliche Gemeinschaftsgefühl, das
dabei entsteht.
Die Gegenwart hat uns nach 7 Stunden historischer Auszeit
wieder. Schweigsam und erfüllt von diesem erhabenen unwirklichen Erlebnis
sitzen wir 45 Minuten später im Auto unseres erleichterten Fahrers und brausen
gen Peking.
Zweieinhalb Stunden später feiern wir im super stylishen
japanischen Restaurant Bei mit einem friedlich vor sich hin schnarchenden Levi
Sushi inmitten einer zum Teil kreativ zum Teil klassisch zurechtgemachten
Mischung aus Chinesen und Expatriates den intensiven Tag und Markus letzten Abend.
Wow, die Chinesische Mauer möchte ich auch noch besuchen. Als ich ganz klein war, waren meine Großeltern dort, aber ich durfte natürlich nicht mit. Mann, war ich bratzig deswegen. ;) Aber ins Brixen Hotel haben sie mich mitgenommen, erst zum rodeln, später dann zum Ski fahren.
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