Heute eröffnet das Kinderhaus, commune of the children.
Gäste können hier mit ihren Kids ab 0 Jahren spielen oder sie zur Betreuung
abgeben. Abgeben möchte ich Levi an diesem letzten Tag unserer gemeinsamen
ersten großen Reise nicht. Das passt nicht. Aber ich möchte ihm gerne den Spaß
ermöglichen, mit anderen - chinesischen - Kindern zu toben. Denn er weiß ja
nicht, dass wir morgen nach München zurückfliegen. Und ich mich deswegen ein bißchen sentimental
fühle. Also los.
Nach unserem gemeinsamen Frühstück, in dessen
Rahmen Levi den gesamten Boden in einem Radius von 1 Meter um seinen Babysitz
herum voll krümelt und versucht, mit Chop Sticks den Obstsalat aufzuspießen
stehen wir in strahlender Sonne und kühler frischer Bergluft vor einem weißen
einstöckigen Gebäude mit mosaikbesteintem Pool ohne Wasser und riesigem weißen Betonklotzschild mit der
Aufschrift: Commune of the children.
Levi krabbelt mehrmals um den Betonklotz herum, um sich dann
dem Rasen zu nähern. Vorsichtig hebt er an der Grenze zwischen Stein- und
Grasfläche eine Hand. Schaut mich an. Ich nicke zustimmend und lache ihn dazu
ermutigend an. Er zieht die Hand wieder weg. Das wiederholt sich geschätzte
148.000 Mal. Bis er sich ein Herz fasst, die Hand absinken lässt und die
Grasspitzen streichelt. Um dann loszuspeedkrabbeln. Über den gesamten Rasen.
Laut juchzend.
Den Charakterzug kenne ich an ihm mittlerweile sehr gut.
Beim ersten Mal wird alles, was ihm neu erscheint vorsichtig beäugt und erst
einmal abgelehnt. Um sich nur Sekunden später wieder anzunähern. Und es doch
noch einmal zu probieren. So ist er mit allem. Beim Essen, beim Spielen, bei
Menschen. Erst einmal vorsichtig. Und dann stürmisch.
Durch unsere gemeinsame Reise habe ich viele seiner
Charaktereigenschaften und Eigenarten intensiv kennengelernt. Und auch gemerkt,
dass es Seiten an ihm gibt, zu denen ich keinen Zugang habe. Da will er für
sich sein. Wie jetzt zum Beispiel. Er sitzt auf dem Rasen, lässt sich die Sonne
ins Gesicht scheinen und macht scheinbar gar nichts außer „nachzudenken“. Und
ich frage mich zum wiederholten Male, was wohl in ihm vorgeht. Denn er macht
das öfter. Einfach so dasitzen. Gedanken versunken. Dann ist er mir ein Stück
weit fremd. Oder anders ausgedrückt: dann ist mir ganz klar, dass dieser kleine
Kerl auch ein Eigenleben hat, zu dem ich keinen Zugang habe. Das mich auch gar
nichts angeht. Und ich frage mich, ob das so bleibt. Oder ob die unbekannten
Seiten mit seinem zunehmendem Alter eher zu- oder abnehmen. Vermutlich beides?
Natürlich habe ich derartige Momente auch vor unserer Reise
schon erlebt. Aber hier, in dieser Intensität unseres Zusammenseins sind mir
eben auch die abgrenzenden Erlebnisse, die sowohl ich als auch er –
offensichtlich, wenn ich ihn so alleine vor sich hin sinnierend beobachte –
brauchen, sehr bewußt geworden. Und so sehr ich ihn liebe, genauso sehr
vermisse ich diese Momente für mich. Ein bißchen habe ich die natürlich, nach
seinem Rhythmus, denn ich setzte mich jetzt auch in den Rasen, in einiger
Entfernung zu Levi, blinzle in die Sonne und denke darüber nach, warum diese
Reise die Erste ist, bei der ich auch ein kleines bißchen froh bin, dass sie
morgen zu Ende geht. Normalerweise habe ich das nie. Aber vermutlich genau deswegen.
Oder anders ausgedrückt: würden wir weiterreisen, bräuchte ich für eine Woche
Wärme, einen Strand, einen Ort an dem wir verweilen könnten und eine Person,
die hie und da mal auf Levi aufpasst. Danach wäre ich wieder fit für „die
Straße“. Denke ich.
Bevor es zu sentimental wird stürmen wir das Innere der
Kinderkommune. Im Erdgeschoß finden wir eine Kinderküche, aus der es nach
frisch gebackenen Keksen duftet. Und die üblichen Wasch-, Toiletten- und
Schlafräume in Zwergengröße. Selbstgemalte Bilder an den Wänden. Rasseln und
mit Miniaturkuhglocken ausgestattete Armbänder in Kisten unter mit bunten
Kissen verzierten Sitzbänken. Malstaffeleien und einige Tische mit kleinen
Holzstühlen drum herum zum Malen und Knetgummi formen. Alles so, wie ich es aus
schon vor Levis Geburt besichtigten Kitas in München kenne. Wobei die
Helligkeit und Großzügigkeit dieser Kita hier schon herausragt.
Nachdem Levi sich an den Rasseln und Glocken ausprobiert hat
gehen wir in den zweiten Stock. Da sei eine Babyecke, sagt uns eine der zwei
Betreuerinnen, die derzeit außer Kekse zu backen nicht viel zu tun haben, denn
neben Levi spielt nur noch eine scheinbar geistig leicht behinderte 12jährige
hier. Leider zeigt sie bisher kein Interesse an uns, also los, zur Babyecke.
Oben laufen wir zuerst auf eine kleine in weißem Holz
gehaltene Kinderteeecke zu. Ein Tisch, einige kleine Hocker, Kinderteegeschirr,
5 bunte traditionelle chinesische Lampen darüber. Rechts davon befindet sich
wieder eine weiße Tisch-Stuhlecke auf pinkem Teppich und mit roten und
rosafarbenen Kissen bestückt. Auf dem Tisch und den umrahmenden Regalen sind
Kuchen, Besteck, Teller, Küchengeräte – alles aus Holz – drapiert. Einige Meter
weiter finden wir eine ähnliche Ecke, nur auf grünem Teppich und mit grünen und
blauen Kissen. Auf dem Tische und den Regalen warten Autos, Züge, Pistolen –
auch wieder aus Holz – auf die Fantasie der kleinen Besucher. Ich setzte den mittlerweile ungeduldig zappelnden Levi auf
den Boden. Der krabbelt schnurstracks zur pinken Ecke, um mit konzentriert
gespitzten Lippen in ein zwanzigminütiges Kuchenbackspiel zu versinken.
Derartig nach Geschlechterrollen getrennte Bereiche sind mir
in den Münchner Kitas nicht aufgefallen. Ob hier Mädchen und Jungs getrennt
spielen, oder ob Jungs und Mädchen sich vermischen und nur für unterschiedliche
Aktivitäten unterschiedliche Räume haben? Oder stolpere nur ich mit meiner
betont emanzipatorisch geprägten Erziehung über diese Anordnung. Also: warum ist die Küche nicht blau und der
Zug rot? Oder ist das völlig wurscht? Für Levi scheint es derzeit noch so zu
sein.
Die Babyecke ist voller Plastikschaukelfantasiefiguren, die
einem japanischen Komik entsprungen scheinen: Knallfarben, große runde
Kulleraugen, irgendwie spacig. Pinke noppige Bälle von der doppelten Größe
eines Fußballs können von Levi mühelos durch die Gegend geschleudert werden –
da sie nichts zu wiegen scheinen. Levi ist begeistert. Und wackelt abwechselnd
zwischen den Platikfantasielassies und dem pinken Ball hin und her.
Am hinteren Ende des Raumes finden wir den Videoraum: Zwei
riesige Plasmafernseher an der Wand, Stuhlreihen davor, ein Regal voller DVDs
und CDs. Mehrere Fernbedienungen. 13 Tugenden zum Mitsingen und Auswendig
lernen. Chinesisch und Englisch. Steht auf einer CD, die meisten anderen sind
mit für mich unleserlichen chinesischen Schriftzeichen bemalt.
Am anderen Ende des Raumes finden wir die Verkleide-Dich
Ecke. An der Wand ein großes gemaltes Bild von der Welt, mit China in der Mitte
und den beiden Schlappohren Nord- und Südamerika zur rechten und Europa mit
Afrika zur linken Seite. Sieht lustig aus, die Welt so zu sehen. Unter der Welt
sind gemalte Paare abgebildet. In traditioneller Bekleidung: Chinesen mit
Reishut und roten Seidengewändern; Holländer mit gelbem Haar, Holzschuhen und
blau-weißer Bekleidung. Amerikanische Cowboys und –girls. Mittelalterlich
anmutende Italiener. Peruaner, die mit Panflöte ausgestattet auch in unseren
Einkaufsstraßen sitzen könnten. Keine Deutschen, leider.
An der Wand daneben eine Kleiderstange mit den dazu
passenden Kostümen. Levi greift sich den chinesischen Hut und fängt an, daran
herum zu kauen.
Zu gerne würde ich ihn hier inmitten chinesischer Kinder
spielend beobachten. Aber leider bleiben wir neben der Zwölfjährigen, die zwar
einige Male nach uns geschaut hat, aber dann doch nicht, trotz aufmunternder
Winksignale meinerseits, zu uns gekommen ist, die alleinigen Besucher.
Kaum haben wir dieses Kinderparadies der irgendwie bekannten
und irgendwie auch unbekannten Art verlassen, da fallen Levi die Augen zu. Und
schenkt mir so eine Stunde Zeit in der Sonne. Reisen ist doch mit das Beste, was ich in meinem Leben
machen kann, denke ich zufrieden und hoffe, dass es für Levi genauso schön war.
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Das ist ein spannender Einblick in eine ganz andere Welt. Ich glaube allerdings, dass es Kindern noch vollkommen egal ist, welche Farben ihre Spielsachen haben. Das kommt erst später durch die gesellschaftliche Prägung. Bei uns in Innichen Südtirol kommt es auch durchaus vor, dass ein richtiges kleines Mädchen mehr auf blau als pink steht und ein Junge "kochen" spielt. Sie tun halt, was sie spannend finden. :)
AntwortenLöschenHallo,
AntwortenLöschenich finde es ja bewundernswert, dass du so weit mit Levi gereist bist. Ich würde mich das nicht trauen. Die vielen DVDs schon für ganz Kleine finde ich in China allerdings etwas...nun ja, bedenklich? Vielleicht bin ich da auch zu altmodisch gestrickt. Aber meine Kinder schicke ich zum spielen an die frische Luft, oder Freunde kommen zum Spielen.