Jetzt erst mal etwas essen! Durch den zunehmend dicker werdenden Dunst Pekings haben wir
uns mit einem normalen Taxi, bei dem wieder der Gurt nicht um Levis Kindersitz
passet und ich ihn deswegen im Björn umgeschnallt und mit Sitzgurt um uns beide
herum doppelt gesichert in 45 Minuten zum Art District 798 fahren lassen. Levi
hüstelte und auch ich musste mich jogimäßig auf meine Atmung konzentrieren und
mir immer wieder sagen, dass die Luft nicht zu dick zum Einatmen ist. Sein
kann. Hoffentlich.
Der Art District 798 ist ein von BMW und anderen großen
Firmen gesponsortes, von der Architektur des Bauhaus inspiriertes, riesiges
modernes Kunstprojekt über zwei komplette Straßenzüge im Dashanzi Viertel
Pekings. Auf diesem ehemals staatlichen Fabrikgelände leben und arbeiten seit
2002 zunehmend Künstler und Architekten. Das Viertel wird bevölkert von
Designstudios, Gallerien, Restaurants, Bars und kleinen Shops. Auf der
dazugehörigen website fallen Begriffe wie sohoesque und loftliving und
entsprechend neugierig sind wir.
Auf der Suche nach einem Restaurant laufen wir im Schwarm
riesiger Menschenmassen durch die von aus Beton und rotem Ziegel gebauten
Fabrikgebäude geprägten Künstlerstraßenzüge. Immer wieder durch lautes
Autohupen dazu gezwungen, noch enger zusammenzurücken und uns an die backsteingemauerten
Gebäude zu drängen, denn: die Straßen sind zum Teil sehr schmal, Fußgängerwege
gibt es nicht immer und: nicht alle Chinesen lassen sich wie wir zu Fuß treiben
und von der Intuition in die unterschiedlichen Ateliers spülen. Manche haben
einen Plan, fahren vor, steigen aus, besichtigen, steigen wieder ein und
brausen weiter. Es scheint gemeinhin akzeptiert, dass der Stärkere, in dem Fall
die Autos, Vorfahrt genießen. Hupen reicht,
gebremst wird unter keinen Umständen.
Aufgrund meiner gefühlten Atemnot, dem aufsteigenden
Hungergefühl und meiner Abneigung gegen Menschenknäuel und Körperkontakt zu
Fremden werde ich zunehmend aggressiv. Auch deswegen kommt mir die von roten Ziegeln umrahmte
Terrasse des in einer kleinen Lagerhalle mit Industriecharme untergebrachten
Restaurants wie das Paradies vor. Vor uns brutzeln zwei Hotpots, Töpfe aus
Metall, unter denen ein kleines Feuer lodert und alles richtig heiß hält.
Scharf und fettig. Wir halten uns die Bäuche, brauchen Cola und Kaffee, um
unsere westlichen Mägen wieder zu beruhigen und fühlen uns geerdet genug, um
mit dem Strom aus Asiaten die Kreativität Pekings zu entdecken.
In jedem Hinterhof finden wir eine Ausstellung, hinter jeder
Ecke eine kleine Gallerie. Wir kommen mehr und mehr in einen Rausch aus
Architektur, die mich euphorisch stimmt und Kunst die mal inspiriert, mal kalt
lässt, mal Ablehnung hervorruft.
Zum Beispiel diese Halle, die überquillt von bunten Blumen.
Die Wände, der Boden, selbst von der Decke herunter hängen die bunten Blüten.
Bei genauer Betrachtung erkennen wir, dass es sich um Soldatenpuppen mit
Gewehren handelt, die da blumenüberzogen von der Decke baumeln und im Raum
stehen. Blumiger Soldat vor blumigem Hintergrund. Levi zupft an den Blüten und
ist damit in guter Gesellschaft: unsere chinesischen Mitbesucher stellen sich
mitten rein in die blumige Kunst, stecken den Soldaten Zigaretten hinter die
Ohren und in den Mund, um sich mit dem obligatorischen Peace-Zeichen daneben
ablichten zu lassen. Die Aufpasser scheint es nicht zu stören, niemand
verscheucht die Menschen aus dem Kunstwerk. Und zum wiederholten Male frage ich
mich, wer sich eigentlich diese Milliarden von Fotos anschaut, die täglich von
chinesischen Kameraträgern geschossen werden.
Als nächstes finden wir schwarze Skulpturen, allesamt
untersetzte nackte Männer in unterschiedlichen Posen: auf einem Stier, hinter
einem Pferd, alles irgendwie erschlagend sexualisiert, alles emotionale
Selbstbildnisse des anwesenden Künstlers um die 50, der die Presse und weitere Gäste
mit Getränken und Canapees bewirtet und mit roten Wangen und breitem Lachen vor
den Skulpturen posiert. Auch mir drückt er ein Glas in die Hand. Und Levi
zwickt er in die Wange.
Oder auch der Raum voller digitaler Spiegel, die abwechselnd laut scheppernd zerbrechen. Habe ich vor einigen Monaten schon auf dem Biennale Gelände in Venedig bewundern können.
Immer wieder kommen wir zu dem Hauptplatz zurück, zum
ursprünglichen Fabrikgelände 798, da wo alles begann. Ein riesiger Platz,
umrahmt von Fabrikgebäuden, und einem alten Lastenkran. Es fühlt sich für mich
an wie New York oder ein zum sich kreativen Ort evolvierendes Arbeiterviertel
des alten Europa, aber auf keinen Fall wie China. Wie kann es sein, dass es so
etwas hier gibt. In Peking?
Es würde nach Barcelona passen, oder London, oder Marseille,
vielleicht auch Hamburg, bestimmt Berlin, aber hier? Er kann sicher mit
Arsenale in Venedig mithalten, ist aber um ein vielfaches Gigantischer. Und auf
der anderen Seite: warum gibt es so etwas, zumindest in dieser Dimension und
Perfektion nicht an den genannten Orten?
Ich brauch eine Pause. Und ein
Glas Wein.
Dass der ganze Ort von chinesischen Massen bevölkert ist und
chinesische Schriftzeichen an den Fassaden prangen gibt dem ganzen eine
surreale Note. Ist das wirklich echt?
Fällt es nur mir schwer, komplett dem kreativen inspirierten
Rausch zu verfallen, der mich umhüllen würde, wäre dieses Gelände in Barcelona
oder New York? Also: ist mir die chinesische Inspiration und Kreativität
einfach nicht so zugänglich, oder existiert sie hier nicht. Zumindest nicht so
richtig? Obwohl ja eigentlich alles, was man dafür braucht, hier ist. Und es
mich auch sehr fasziniert. Und gleichzeitig nicht so richtig reinlässt. Innerlich kommt nicht wirklich etwas in Gang bei mir. Ich
fühle mich wie ein Kind, dass sich die Nase am Schaufenster des geschlossenen
Süßigkeitenladens platt drückt.
Wir sitzen im At Cafe, es dämmert, um uns herum deutsche,
brasilianische, englische und chinesische Wortfetzen. Levi schläft. Und ich möchte gerne wieder herkommen, zu diesem für mich
bisher faszinierendsten, widersprüchlichsten Ort Pekings.
Ich habe den Reisebericht mit glühenden Wangen laangsam gelesen und so versucht das ganze mit zu erleben , konnte mir alles ganz gut vorstellen und es nach voll ziehen. Vielen Dank für diesen Bericht!! Gibt es ein Buch? Hier meine Mailadr. brighaentsch@web.de
AntwortenLöschenIch bin wirklich begeistert von eurer Reise. Das klingt alles ganz spannend, auch wenn es zwischendurch bestimmt super anstrengend war.
AntwortenLöschenLG aus dem Passeiertal