Wir werden den Flieger verpassen, denke ich. Seit einer
Stunde quälen wir uns auf der verstopften 5. Ringstrasse um Peking,
mittlerweile kurz vor der Auffahrt zum Airport Highway. Eine Stunde und zwanzig
Minuten vor planmäßigem Abflug. Und es wird so sein, wie immer, denke ich. Wenn
man es braucht, sind die Flieger nie verspätet. Wenn man es auf keinen Fall
gebrauchen kann, sind sie es meistens.
Levi schnarcht im Maxicosi neben mir. Der Fahrer bleibt entspannt und gibt dennoch alles. Er
tänzelt mit dem Auto zwischen allen vier Spuren hin und her, um bloß nicht
stehen bleiben zu müssen. Chinesen überholen rechts und links, egal wie dicht
der Verkehr ist. Sie fahren eng auf. Schießen auf die nächste Spur, ohne zu
blinken oder erst den Blinker setzend, wenn sie schon fast auf der anderen Spur
angekommen sind. Mich wundert, dass ich nicht mehr Unfälle gesehen habe, schießt
es mir durch den Kopf, als wir uns an meinem ersten chinesischen Auffahrunfall
vorbeischlängeln, in dessen Rahmen sich zwei Paare gegenüberstehen, die eine
Frau wild schreit und gegenüber der anderen Dame handgreiflich wird. Von wegen
chinesische Gelassenheit. Überhaupt scheinen Chinesen weitaus expressiver ihren
Gefühlen Ausdruck zu verleihen, als ich es erwartet habe. Beispielsweise bei
den Verhandlungen im Replika Market. Ein Nein des potentiellen Käufers wurde
meistens mit einem Sprung auf ihn zu und einem Schwall teils beleidigter, teils
weinerlicher Worte begleitet, die Hände nicht selten in den potentiellen Käufer
verkrallt, um ihn doch noch von der Ware oder auch nur von dessen Kauf zu
überzeugen.
Als wir eine Stunde und fünf Minuten vor Abflug den
Flughafen erreichen geht alles gewohnt perfekt und schnell: der Lufthansa
Schalter ist fast leer, aber das Personal noch da. Der Kinder- und Versehrten
Schalter bei der Pass- und Sicherheitskontrolle funktioniert erneut, d.h. auch
hier sind wir entgegen aller anderer Erfahrungen – an manchen Flughäfen wie
München beispielsweise gibt es derartige Schalter gar nicht, an anderen wie
beispielsweise LA drängen sich auch hier kinderlose und unversehrte Personen –
innerhalb weniger Minuten durch. Auch mit dem mitgeführten Babyessen und Wasser
gibt es keine zeitfressenden Probleme – während ich diesbezüglich
beispielsweise in Hamburg, München oder Barcelona jedes Mal quälend lange teils
aggressive Diskussionen oder Extrakontrollen über mich ergehen lassen muss. Absolut
begeistert vom Pekinger Flughafen stehe ich am Gate, bevor das Boarding
überhaupt begonnen hat. Also nutzen wir den Spielplatz gegenüber unseres Gates
und spielen so gedankenversunken, dass wir dann doch noch fast den Flieger
verpassen.
Im Flugzeug begeistert uns zunächst der leere Platz neben
uns und die Flugbegleiter und Flugbegleiterinnen. Sie bringen den Schlafkorb
für Levi gleich nach dem Start, sagen die. Und ob wir Babygläschen brauchen – Obst oder Fleisch. Und dass ich nur
Bescheid geben soll, wenn ich mich frisch machen möchte oder einfach so mal
eine Pause benötige – sie kümmern sich gerne um Levi. Entspannt verteile ich
unser Gepäck über, unter und neben uns. Drapiere das Spielzeug in den
verschiedenen Ecken und Winkeln des Sitzes und des Nebensitzes, während Levi es
sich zu meinen Füßen bequem macht und alles mit wachen Augen beobachtet. Ich
muß daran denken, wie nervös ich vor meinem ersten Flug mit Levi war. Und wie
glatt dann alles ging. Und geht. Meistens. Die zwei negativen Erfahrungen beim
Fliegen, die ich mit Levi bisher zu bewältigen hatte, waren hausgemacht durch
meines Erachtens unsensible Flugbegleiter.
Beim ersten Mal saß ich auf einem Lufthansa Flug von Hamburg
nach München am Fenster und hatte Levi auf dem in der Business Class
freibleibenden Mittelplatz festgeschnallt. So wie ich es immer gemacht hatte,
wenn Markus dabei war und auf dem zu unserer Reihe gehörenden Gangplatz saß.
Diesmal nahm dort ein uns unbekannter Mann Platz. Er lächelte uns freundlich an
und gab keinen Anlass zur Annahme, dass irgendetwas an unserer Sitzkonstellation
nicht in Ordnung sei. Die Purserin des Fluges beugte sich über den schlafenden
Levi, wackelte an seinem Maxicosi und fragte nach dem
Flugtauglichkeitsaufkleber. Ich antwortete freundlich und bestimmt, dass der
sich an der Unterseite des Sitzes befindet und ich ihr den gerne beim
Aussteigen zeige, jetzt aber nicht bereit sei, mein schlafendes Kind zu wecken
und den Cosi wieder abzuschnallen.
Sie zog ab, um nach wenigen Sekunden wieder
vor unserem Sitznachbarn zu stehen und mich nach meinem Ticket für Levi zu
fragen. In einem Tonfall, der sowohl Levi aufweckte als auch mich langsam in
einen Zustand ärgerlicher Erregung zu versetzen begann. Ich ließ Levis
Schlafhand los, kramte nach dem Ticket. Levi wachte auf. Ich gab das
Infant-Ticket an die Dame, sie verschwand, um nach 30 Sekunden erneut vor
unserer Reihe zu stehen, und mich zu fragen, ob ich ein vollbezahltes Business
Class Ticket für Levi hätte. Da platzte mir der Kragen. Innerlich. Ich antwortete,
dass sie besser wissen müsste, als ich, dass Kinder unter 2 Jahren kein
vollbezahltes Ticket benötigen und wenn ich eines gekauft hätte, Levi nicht in
der Mitte, sondern auf dem Gangplatz sitzen würde und was sie eigentlich genau
von mir wolle. Wieso? fragte die Dame. Vermutlich in echtem Erstaunen. Ich
betrachtete das Gespräch für beendet, sie verließ uns, um nach 30 Sekunden
erneut zu erscheinen, Levi anfing zu weinen und sie in einer Lautstärke durch
den Flieger quakte: es ginge hier um den Buisnessclasscomfort meines
Gangplatznachbarn und er hätte schließlich dafür gezahlt, dass der Mittelplatz
frei bliebe. Aha. Hätte sie ja auch gleich sagen können. Ich hob den
plärrenden, weil in seinem Schlaf gestörten Levi aus seinem Cosi, versuchte ihn
zu beruhigen und gleichzeitig meinen Sitznachbarn zu fragen, ob er sich in
seine Sitzkomfort gestört fühle und wenn dem so sei ich selbstverständlich den
Cosi abbauen würde. Der lächelte mich freundlich an und sagte: Ich habe selber
zwei Kinder, ich freue mich über seine Gesellschaft, lenkte Levi mit einigen
gekonnten Grimassen vom Plärren ab und schickte die ungeschickte
Flugbegleiterin in ihr seelenloses Getränkeparadies. Aber mit meiner inneren Ruhe war es vorbei. Und das spürte
Levi und somit hatten wir einen denkwürdig unruhig-anstrengenden Flug.
Mit gleicher Airline auf gleicher Strecke gab es einige
Wochen später in Begleitung von Markus eine recht ähnliche Situation. Wir
hatten gerade das Flugzeug betreten, wurden wie so oft von den im
Eingangbereich aufgereihten Mitarbeitern, die sich über ihr Leben unterhielten,
statt die Gäste zu begrüßen, erst eines Blickes gewürdigt, als sie den von mir
getragenen Maxicosi samt Levi wahrnahmen. Unsanft griff der diesmal männliche
Purser an den Henkel des Cosi, so dass dieser nach hinten kippt und Levi fast
hinauspurzel, und sagt in einem Ton, den ich mir von Kindergärtnerinnen
gegenüber Levi verbitten würde: das geht aber nur ausnahmsweise. Und lächelt
dazu süßlich gönnerhaft. Wie er das meine, fragte ich nur äußerlich entspannt
zurück. Der Flieger sei sehr leer, sonst sei für den Maxicosi kein Platz. Ich
würde den immer zwischen mir und meinem Mann auf dem Mittelsitz befestigen. Ob
ich denn ein vollbezahltes Ticket hätte für das Baby. Ich entgegnete dem Mann,
dass es doch die Entscheidung meines Mannes und mir sei, was wir auf den sonst
leerbleibenden Sitz zwischen uns transportieren würden. Hinter uns stauten sich
die Menschen. Der Purser schaut mich fragend an. Ich bat ihn, seine Hand nun
endlich von meinem Maxicosi zu entfernen, was er mit beleidigter Miene tat,
setze mich in die nur einen guten Meter entfernte Reihe 3 und kochte. Ich kann
es überhaupt nicht vertragen, wenn wildfremde Menschen in unguter Absicht Levi
berühren. Oder auch nur seinen Sitz. Ach, Sie reisen Business Class. Der Purser
versucht ein Lachen. Wusste ich ja nicht. Wäre vielleicht eine sinnvolle erste
Frage gewesen, gab ich zurück. Direkt nach einem Herzlich Willkommen, empfahl
ich schnippisch. Warum ich so unfreundich sei, fragte dieser Typ mich doch
glatt. Um es abzukürzen, wir hatten noch einige überflüssige Wortwechsel,
selbst nach dem Start, während der Getränkeausgabe, einfach ständig suchte der
Mensch uns mit seinen Diskussions- und Entschuldigungsversuchen heim. Hat Levi
nicht gefallen. War auch ein unruhiger Flug. Was ich sagen will: es hängt fast
ausschließlich von den uns umgebenden Menschen ab, ob ein Flug genial, normal
oder furchtbar verläuft.
Mit Levi ist es noch einmal schwieriger für mich, mich von
unserem Umfeld stimmungsmäßig abzukoppeln. Und das merkt der kleine Kerl. Und so war es ja auch in der Transsib oder am Baikalsee. Mit
und wegen Olga, Rita, Maryanna oder Natascha hatten wir die schönsten Momente
unserer Reise. Wegen dieser Menschen – alles Frauen, fällt mir gerade auf –
haben wir den gesamten Zug, Sibirien, den Baikalsee in schwärmerisch-schöner
Erinnerung. Als ich noch ohne Levi reiste, fiel es mir leichter, mich von den
negativen Einflüssen anderer Menschen abzugrenzen. Mit ihm ist das gar nicht so
leicht. Vielleicht weil ich mich mit ihm nicht so in mich zurückziehen kann,
wie alleine.
Andererseits lerne ich alleine reisend oder mit Markus nicht
so viele Menschen so leicht und intensiv kennen, wie mit Levi. Levi ist wie ein
Bindeglied zwischen mir und den Anderen. Im Guten wie im Schlechten.
Während ich so nachdenke und Levi mit meinen mittlerweile
nur noch bestrumpften Füßen spielt, will sich ein Mann in meinem Alter neben
uns setzen. Ich schaue ihn fragend an, er nickt, ich räume Levis Spielzeug zur
Seite, er setzt sich. Ich dachte der Sitz bleibt frei, weil ich ein Kinderbett
bestellt habe, dass ja dann auch vor Ihnen hängt, begrüße ich den
Neuankömmling. Es tut mir leid für Sie, schiebe ich nach. Ich bin von der Eco
upgegraded worden, lacht er mich an. Ich
denke, deshalb denkt Lufthansa, muß ich da durch. Ich habe den Businessflug per
Meilen erstanden, will ich mich mit dem netten Menschen verbünden, lasse es
dann aber.
Nach dem Start muß ich mich unter Levis Bett durchducken,
dabei auf allen Vieren über die Füße und Beine meines Sitznachbarn klettern, meistens gelingt es
mir nicht, ihn dabei nicht zu berühren. Ich entschuldige mich jedes Mal, er
sagt jedes Mal, dass er das Lufthansa Business Konzept diesbezüglich nicht verstünde,
da es für mich ja schon eine unangenehme Situation sei. Ist es wirklich. Und ob
ich mit ihm den Platz tauschen möchte. Er ist Italiener und hat 3 Kinder. Alle
noch jung. Er hilft mir, Levis Flaschen vorzubereiten, fängt gekonnt von Levi
umgeworfene offene Gläschen oder Spielzeug auf und beweist sich auch als guter
Levi-Entertainer. Und schenkt mir so die eine oder andere Minute Entspannung.
Mir fällt dazu der Venezianer ein, den ich im Zubringerbus
zum Flieger nach Venedig auf dem Flughafen München kennengelernt habe. In
Deutschland herrschte Unwetter, Markus saß in Düsseldorf fest und ich hatte
mich entschieden, ohne ihn mit Levi zu fliegen, nachdem ich herausgefunden
hatte, dass die Flüge am folgenden Tag fast ausgebucht waren und Markus einen
Platz auf der 6 Uhr Frühmaschine gesichert hatte. Da ich das gesamte Gepäck für
uns Drei dabei hatte, war ich latent überfordert. Das haben natürlich alle
Mitreisenden mitbekommen, aber nur dieser Italiener hat seine Hilfe angeboten.
Er habe Zwillinge und hat auch schon gemerkt, dass Deutsche was Kinder angeht
eher nicht hilfsbereit seien. Stimmt, sage ich. Auch Schwangeren gegenüber
nicht. Ich erzählte ihm die Geschichte eines Events, das ich als Gastgeber in
meinem Geobuchladen hochschwanger anmoderierte. Meine Mitarbeiter hatten
vergessen, mir für später einen Sitzplatz zu reservieren und keiner meiner
Gäste bot mir einen Platz an, so dass ich 90 Minuten stehen durfte. Ich hätte heulen können, so enttäuscht war ich von meinen Gästen.
Der Venezianer erzählte mir seinerseits seine Erfahrung im
Münchner Flugzeugzubringerbus. Er stand, wie wir damals, mit seiner Frau, den
Zwillingen und Gepäck im Bus und schaffte, als der Bus am Flieger hielt, nur
einen Teil des Gepäckes herauszuheben. Kurz bevor er den Bus wieder betreten
wollte, um die zweite Ladung zu holen, schloß der Busfahrer die Tür und brauste
davon. Als der Italiener es dann vor Abflug noch schaffte, den übereifrigen
Fahrer zurück zu ordern blaffte dieser unseren freundlichen Italiener an, er
solle halt weniger Gepäck mitnehmen oder mit den Babys gleich zu Hause bleiben.
Selbiger Italiener half mir nicht nur, das Gepäck im Flieger
zu verstauen, es mir in Venedig bis zum Kofferband zu tragen, meinen
Gepäckwagen bis zur Wassertaxivermittlungsstelle zu schieben, sondern rettete
mich erneut, da es um 23 Uhr und zur besten Biennale-Zeit keine Wassertaxen
mehr am Flughafen gab. So was gibt es nur in Italien, entschuldigte er sich bei
mir. Die Wassertaxifahrer hatten aufgrund der Biennale Hochsaison tagsüber
genug verdient und beschlossen, an diesem Abend etwas früher Schluss zu machen.
Wie ich denn jetzt nach Venedig käme, fragte ich die Dame an dem nutzlosen
Wassertaxivermittlungsstand. Es gäbe einen Bus. Und ab dem Hauptbahnhof dann
ein Wassertaxi. Oder das Linienboot. Aber da müsste ich umsteigen. Beides,
sowohl Bus als auch Umsteigen würde ich mit dem Gepäck und Levi alleine nicht
schaffen, sagte mein venezianischer Schutzengel. Doch doch, sagte ich, da
helfen mir bestimmt wieder Menschen. Ich wollte seine Hilfsbereitschaft nicht
überstrapazieren. Aber er bestand darauf, mich mit seinem Auto bis zu einer
Stelle in Venedig zu kutschieren, an die er ein Wassertaxi bestellen konnte, in
das er mich samt Gepäck setzte und alles Gute wünschte. Ich war absolut angetan
von so viel Hilfsbereitschaft. So etwas habe
ich in Deutschland noch nienienie erlebt. Aber seitdem halte ich noch mehr als
sonst die Augen offen, ob ich jemandem helfen kann. Und um den deutschen
Schnitt zu heben.
Und jetzt habe ich wieder das Glück, einen
familienfreundlichen Italiener neben mir zu wähnen. Aber 10 Stunden sind lang.
Und so krabbelt Levi mehrmals an den Beinen desselbigen vorbei und den Gang des
gesamtes Flugzeuges auf und ab, bleibt bei einigen ihn anlächelnden Menschen
sitze und beginnt ein Gespräch. Andere, insbesondere die, die sich besonders um
seine Gunst bemühen, lässt er links liegen. Zweimal greift er daneben und
versucht Menschen, die wirklich gar keine Lust auf ihn haben, um den Finger zu
wickeln. Dort greife ich ein und lotse ihn weiter. Ansonsten lasse ich ihm und den
anderen ihren Spaß und beobachte aus der Ferne. Was für ein selbstbewusstes
kommunikatives freundliches kleines Kerlchen, denke ich stolz. Und meine Augen
werden feucht. Wie er sich wohl in München nach diesen ganzen tollen
Erfahrungen behaupten wird? Ob ihm der Alltag zu Hause genauso viel geben kann,
wie unsere Erlebnisse unterwegs? Ob wir auch in München alten und neuen
spannenden Menschen so intensiv begegnen können, wie denjenigen, denen wir in
den letzten Wochen unterwegs begegnen durften?
Und vor allem: Ob die Menschen zu Hause unser Leben genauso
prägen können, wie die Menschen unterwegs unser Leben, unsere Gefühle die
letzten Wochen geprägt haben?
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