Sonntag, 16. Oktober 2011

Das preisgekrönte Künstlerdorf Song Zhuang

Was die Pariser Umgebung für die Impressionisten war, sind die Dörfer nördlich und östlich von Peking für die chinesische Kunstszene heute. Doch keines kann mit Song Zhuang mithalten. Sagt der Wallpaper Reiseführer. Das Hotel organisiert den Fahrer, da ich nach unserer Erfahrung gestern – keine funktionierenden Gurte, keine Ortskenntnis und mehrere Vollbremsungen, bei denen ich alle Mühe hatte, Levi und mich vor einem schmerzhaften Aufprall zu bewahren – keine Lust auf einen öffentlichen Taxifahrer habe. Was für ein Auto wir bevorzugen? Ich entscheide mich für die günstigste Kategorie, irgendein chinesisches Auto.

Levis Kindersitz ist vermutlich der erste und letzte der jemals im Maserati Quattroporte festgeschnallt wird. Chinesische Autos waren nicht mehr verfügbar. Alle Gäste buchen immer die günstige Kategorie, lacht der Guest Relations Manager in mein irritiertes Gesicht. Also los.

Leider erlaubt der Verkehr nicht das Ausfahren des edlen Gefährtes. Nach  45 Minuten Fahrt und zwei Stopps an Touristeninfopunkten zweigt der Fahrer auf eine Halle. Yes? 
Noo!

Wir stehen auf einer breiten vielbefahrenen Straße mit trashig wirkenden Shops und halbverfallenen neonbeleuchteten Gebäuden rechts und links. Keine Spur von baumgesäumten Künstlercharme, wie es das Internet versprach. Also weiter.

Der nächste Stopp. Fingerzeig. Kopfschütteln Weiter. Der dritte Infopoint hat eine Karte des „Künstlerdorfes“ und eine halbwegs englischsprechende Mitarbeiterin. Wir sind also schon mittendrin, sagen beide. Der kreative Ort besteht aus 20 Künstlerdörfern, 100 Gallerien und 20 Museen. Verteilt auf 116 Quadratkilometern. Zunehmend von offizieller systemkonformer Seite inspiriert.

Verloren steuern wir ein Cafe an. Stilecht gibt es Chips und Popcorn. Viele Gallerien haben gerade geschlossen oder werden renoviert, erklärt Song Li. Die Besitzerin des Cafes. Ihr Sohn sitzt an einem der Tische und macht Hausaufgaben. Levi schlinselt zu ihm herüber. Die meisten Menschen kommen in organisierten Touren. Um selbst zu malen. Ihr Mann sei Fotograf. Er ist gerade beim Angeln. Was sie uns empfiehlt? Frage ich sie. Sie lacht und schaut fragend zurück.
Zweiter Versuch: was sie von der Sunshine Gallery oder dem Harmony and Tranquility Art Museum halte frage ich und zeige mit meinem Finger auf die beiden Gebäude auf meiner im dritten Infopoint erstandenen Song Zhuang Karte. United Nations Human Settlements Program International Exemplary Model Award steht drauf. 2008. Ist noch nicht so lange her. Sie schaut fragend zurück.

Irgendwie hat in China niemand eine Meinung. Ist mir gestern schon aufgefallen, als ich nach dem Kunstviertel 798 gefragt habe. Wie es dort sei und ob wir da hinmüssen. Oder vorgestern nach einer Restaurant Empfehlung für moderne chinesische Küche. Wo hippe Einheimische hingehen.

Also laufen wir einige Minuten die Song Zhuang Autobahn entlang, schauen in die wenigen offenen Gallerien hinein, finden zwei ganz spannende Künstler und haben irgendwann schwere Füße, staubige Kleider und Durst. Levi hängt im Babybjörn und beobachtet alles mit kritisch distanzierter Miene, aber ohne Kommentare abzugeben. Sich laufend, also per pedes, etwas zu erschließen scheint ein Konzept der alten europäischen Welt zu sein. Eventuell sogar ein rein deutsches Phänomen.

Nachdem der Maserati nicht zu sehen ist halten wir eine dreirädrige Motorrikscha an und wollen zum Harmony and Tranquility Art Museum. Letzter Versuch. Wohin?

Wir lotsen die Dame, holpern über sandige Schotterpisten, vorbei an einem kleinen Teich, an dem mehrere Menschen Angeln hineinhalten und einer am Ufer sitzt und mit Papier und Kartonagen herumhantiert, um nach mehreren Stopps, bei denen unserer Fahrerin mit Passanten diskutiert vor einer verschlossenen Halle zu stehen.

Ich halte dem Maseratipiloten den Ausdruck vom Stone Boat Cafe im Rinta Park unweit des Opposite House unter die Nase und 25 Minuten später trinken wir Ingwer Tee und Martinicocktails und füttern Levi mit Hilfe von Chop Sticks mit homemade Dumplings. Lecker.

Am Tisch gegenüber diskutiert eine generationenübergreifende 6-köpfige Gruppe schwäbischer Familienunternehmer, dass der chinesische Müll halt nicht zu ihren Müllverarbeitungsanlagen passt.
Irgendwie scheint der Versuch nach China zu expandieren heute nicht so erfolgreich verlaufen zu sein.
Die zweite Runde Bier kommt, das Lachen wird lauter. Gut, wir waren 10 Minuten zu spät, und dann hatte er keine Zeit mehr. Wären wir zehn Minuten zu früh gewesen, hätte er zwei Stunden gehabt, sagt der eine mit den Hosenträgern. Außerdem war der Gesprächseröffner des einen Chinesen über die Statik unserer Anlage doch total daneben. Die Statikfrage muss heute noch gelöst werden. Bitteres Lachen am Tisch. Lass uns gehen, die warten doch schon beim Essen. Solln sie doch. Die dritte Runde Bier.

Statt eines Taxis reagiert ein Rikschafahrer auf mein Winken. Ich halte ihm den Zettel unseres Hotels unter die Nase, er nickt und braust los. Ohne in die Pedale zu treten. Elektro-Rikscha.
Der Fahrtwind weht uns um die Nase. Schön. Schnell. Ganz schön schnell.

Nachdem wir von der gemütlichen baumgeschmückten Straße in eine Hauptverkehrsader einfädeln und der Fahrer auch noch auf der Überholspur der Gegenfahrbahn – also als Geisterfahrer – einbiegt und Levi sich an mich krallt mit offenem wortlosen Mund, finde ich das nicht mehr so schön.
Nach 10 Minuten und mehreren fast Kollisionen mit Autos, die das Tempolimit mindestens um die doppelte Geschwindigkeit überschreiten stehen wir vor einem uns unbekannten Hotel und der Pilot will 150 Juan.

Wir zeigen auf den Zettel. Er zeigt auf das Hotel. Nach einigem Hin und Her fahren wir weiter als Geisterfahrer, auf immer größeren Straßen. Ich halte nach richtigen Taxen Ausschau, die auf einmal im direkten Vergleich mit diesem durchgeknallten Elektrorikschafahrer die gesündere sicherere Alternative zu sein scheinen, Markus nach einem irgendwie bekannt aussehenden Hochhaus. Mir wird flau, ich will raus. Aber für Levi muss ich ja entspannt bleiben. Gar nicht so leicht, so als Geisterfahrer. Markus hat seine Nase weit aus der Rikscha gelehnt, sucht mit zusammengekniffenen Augen. Manchmal dreht er sich zu uns um und versucht ein schiefes Lächeln. Levi strahlt zurück. Sollten wir das hier überleben werde ich nie wieder, wirklich nie nie wieder in Peking eine Rikscha besteigen, sage ich. Das Gebäude kenne ich, ruft Markus triumphierend.

Levi bekommt noch orginal australische Ugg Boots für 5 Euro aus dem Replikamarket und wir eine Flasche italienischen Rotwein im auf spanische Tapas spezialisierten Restaurant Sureno. Während Levi im Maxicosi friedlich an unserem Tisch schlummert fragt uns das junge chinesische Paar am Nebentisch, ob das Leben sich durch ein Baby eigentlich stark verändert.

Beitrag kommentieren

1 Kommentar:

  1. Wie immer ein wunderbarer Bericht über eure Reise. Ich wusste gar nicht, dass es sogar Elekro-Rikschas gibt. Nach deiner Schilderung hätte ich da aber wohl auch eher Angst vor. ;) Mit unserer kleinen planen wir noch keine Fernreise, aber kommenden Sommer zum ersten Mal Camping Brixen. Ich bin total gespannt, wie sie darauf reagiert, in einem Zelt zu übernachten, das nicht im Garten bei Mama und Papa steht.

    Liebe Grüße,
    Sabine

    AntwortenLöschen