Sonntag, 2. Oktober 2011

Blutige Familienzusammenführung


Nachdem wir über den Flow-Diskussionen der vorgestrigen Nacht den Zug gestern verpasst und noch einen sonnigen Tag auf der Terrasse verbracht haben sitzen wir heute im Zug. Total entspannt. Ein Abteil für uns drei. So war der Plan.
Jetzt sitz sie mit bei uns. Nara. Sie ist 23 Jahre alt, hat zwei Jahre in London gelebt und ist unsere Übersetzerin. Mir war nicht klar, dass ich sie gebucht habe, schimpflache ich in die Runde. Zug, Jeep, mit Fahrer, Jurte ja, aber Übersetzerin? Scheint nicht ohne zu gehen in der mongolischen Tourismusindustrie?

Aber ich wollte die Abteilatmosphäre mit euch alleine genießen. Nara schaut angestrengt aus dem Fenster. Ich bemühe mich in einem Tonfall zu sprechen, der ihr nicht verrät, dass wir über sie und die aus meiner Sicht verkorkste Lage diskutieren. Sie ist zwar nett, Levi spielt seit 10 Minuten an ihren Schnürsenkeln ohne dass Nara sich auch nur einen Millimeter bewegt hätte – aber ganz nach den Fantastischen Vier: Sie muss raus.
Ich will unbedingt schlafen, Nara, und Markus auch und deswegen brachen wir den Platz. Nara deutet auf die zwei Liegeflächen im Obergeschoß des Abteils – wie immer gibt es vier Schlafpritschen pro Abteil in der zweiten Klasse. Ich will unten schlafen, wegen Levi. Sie schließt die Abteiltür und ich fühle mich schlecht. Aber der Zug ist relativ leer. Nur noch eine mongolische Familie in unserem Waggon. Mutter, Vater, 7jährige Tochter und Essen für den gesamten Herbst füllen das Abteil neben uns. Samt der bekannten Gerüche.

Nara steckt ihren Kopf ins Abteil und fragt auf Englisch, ob wir was essen wollen. Reicht ohne auf die Antwort zu warten Lunchpackete rein. Habe ich wohl auch gebucht. Dieser Zug hat kein Restaurant, sagt sie und verschwindet wieder. Puh. Der Zug hält gefühlt alle 25 Minuten. Immer für geschätzte 20 Sekunden. Mitten in der Landschaft, die sich langsam eindrucksvoll von Grassteppe in sandige Wüstensteppe verwandelt. Dort stehen immer ein paar Menschen, holen entweder Reisende ab, die mit gehetztem Gesicht Gepäckstücke aus dem Zug werfen und hinterher hüpfen, während der Zug sich schon wieder in Bewegung setzt und der jeweilige Waggonschaffner dazu schimpft, oder zur Eile mahnt, ich verstehe es ja nicht. Oder sie verkaufen Getränke, Eis, Teigtaschen. Nicht an uns, denn dafür sind wir einfach nicht schnell genug.

Am nächsten Stopp springt Markus mit Levi aus dem Zug. Füße vertreten. Der Waggonschaffner ruft ihm irgendwas hinterher. Markus hat Levi auf den Schultern, dem Schaffner den Rücken zugedreht, in Diskussionen über Teigtaschen und Bierpreise vertieft.

Der Schaffner macht mir unmißverständliche Zeichen. Ich rufe Markus hinterher. Dann brülle ich. Er dreht sich um und lacht. Levi lacht auch. Sie sind zu weit weg, um mich zu hören. Der Zug dampft, dröhnt, quietscht und setzt sich langsam in Bewegung. Markus bekommt davon nichts mit. Bestaunt den im Nirwana gebauten Bahnübergang mit heruntergelassener Schranke und einem wartenden Auto davor. Der Zug wird schneller. Markus bemerkt es, schaut mich an, mit einem Fragezeichen im Gesicht und einer Tüte mit Bier und Teigtaschen in der Hand. Levi schaut mit großen Augen, wie ich an den beiden vorbeifahre.

Ohne Levi könnte Markus sicher irgendwie aufspringen. Aber mit Sohni? Shit.

Plötzlich geht ein Ruck durch den Zug. Ich werde unsanft gegen meine Abteiltür gedrückt. Wir stehen. Als hätte jemand die Notbremse gezogen. Falls es so etwas hier im Zug gibt. Ich bereite mich innerlich auf eine Verteidigungsrede vor – nein, ich habe die Notbremse nicht gezogen, Ehrenwort – und beobachte gleichzeitig, wie alle Waggonschaffner aus dem Zug und Richtung Lok laufen. Ich schaue in die entgegengesetzte Richtung und sehe, wie sich eine Gestalt mit zwei Köpfen auf mich zubewegt. Schweiss steht auf seiner Stirn, als Markus in unser Abteil klettert.
Wie hast Du das geschafft, fragt er?

Später erzählt uns unser Schaffner bei einem Tee, dass eine desorientierte Kuh mit dem Zug kollidiert ist – Manfred hatte von einer ähnlichen Begebenheit in Russland erzählt, allerdings wurde da keine Kuh, sondern ein elchähnliches Wesen von den Schienen gekratzt. Blutige Familienzusammenführung.

Levi schnarcht erleichtert. Mit weißen Nasenspitzen und doch irgendwie glücklich sitzen Markus und ich in unserer kleinen Abteilwelt, kuscheln uns aneinander und schauen aus dem Fenster.

Das fängt ja gut an.

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