Auf 50 Meter Entfernung zieht mich diese Gestalt in ihren Bann. Rote Fleecejacke, rote Mütze mit gelben langen breiten Bändern, wie sie besonders lustige Gestalten manchmal beim Skifahren tragen, ähnlich stylisch wie die Mätzen mit den roten Haaren. Aber in diesem Fall unterstreicht sie positiv das Besondere der Trägerin. Die lacht breit. Ein geflochtener roter Zopf baumelt bis zum Po. Eine Kreative, Künstlerin, denke ich. Nur die nüchterne Brille aus Metall, Modell wie hiess der Typ nochmal vom heiteren Beruferaten? Passt nicht zu meiner Schublade.
"I am Julia", lache ich ihr entgegen, "and this is Levi", und hüpfe mit Levi im Babybjoern von Bord des Kutters, der uns in der letzten Stunde von Listwjanka nach Bolschoi Koty getuckert hat. Bei ordentlichem Wellengang und steifer Brise vom See. Aber ohne Regen. Trotz gegenteiliger Vorhersage.
Bis gestern morgen wollte ich die Reise hierher wegen Angst vor starkem Seegang, Kälte und Abgeschiedenheit - nach Bolshoi Koty führt keine Strasse, nur per Boot oder entlang eines kraxeligen Küstenwanderweges ist der kleine Ort mit dem Rest der Welt verbunden- und weil mir noch das Krankenhauserlebnis und die Angst um Levi in der Seele sass, noch abblasen. Jetzt spüre ich wieder Adrenalin in meinem Körper. Abenteuergeist. Levis Hände weisen kaum noch Spuren der Verwüstung auf. Ein paar schwarze Punkte, die ich fleissig mit Heilsalbe und Küssen pflege. Der tapfere Zwerg.
Levi greift nach Nataschas Zopf. Draussen ist es fast dunkel. Levi sitzt grinsend in Mariannas, der Enkelin von Natascha, Babysitz. Der ist angeschraubt an der Küchentheke, an der Natascha gerade Bratkartoffeln brutzelt. In viel Butter. Sie erzählt dabei. Ihr Zopf wippt hin und her. Am Ende kein Haargummi, sondern in alle Richtungen abstehende Haarsträhnen. Levi hat die wippende Bewegung einige Momente mit offenem Mund beobachtet. Jetzt lacht er wie ein zufriedener Opa, eine rote Strähne fest zwischen seinen kleinen Händen.
Ohhhhh, Leeeeevi, Natascha tanzt in ihren Plastikcrocks um Levi herum, genau in dem Radius, dass er die Haare fest im Griff behalten kann. Ausfallschritt rechts, Ausfallschritt links, ihre blauen Augen weit aufgerissen, Wangen auggeblasen, Luft rausschnaubend hüpft sie wie ein fröhlicher Gartenzwerg herum. Levi ist verliebt. Ich auch.
Wir bleiben in der Küche und essen zusammen. Nataschas Tochter hat Archaeologie studiert. Und hat vor kurzem umgeschult auf Köchin. Marianna ist promovierte Chemikerin. Sie forscht in Irkutzk über Gifte (mehr hab ich nicht verstanden). Die Brille passt zu diesem Aspekt ihrer facettenreichen Persönlichkeit, denke ich. Seit ihrer Kindheit kommt sie im Sommer nach Bolschoi Koty. Während sie das erzählt, werden ihre Gesichtszüge ganz weich. Faltenfrei. Eine elfenhafte Aura umgibt diese Frau, die richtig anpacken kann.
Sie träumt davon, nach ihrer Pensionierung ganz nach Bolschoi Koty zu ziehen. Hier ist das Leben zwar voller körperlicher Arbeit, Gemüse pflanzen, ernten, Kochen, Haus in Schuss halten, und bei der extremen Witterung-Stürme, Regen, Schnee, Minus 40 Grad im Winter - ist da viel zu tun, aber dennoch nicht so ermüdend wie in der Stadt. Sie lächelt für sich, da sie weiss, was sie als nächstes sagen wird, es aber noch nicht gesagt hat. Überlegt, ob sie es sagen soll. Die Arbeit hier ist voller Sinn, sagt sie. Nicht so wie in der Stadt. "Ich liebe die Natur hier". Jetzt lächelt sie mich an, ihre Augen werden ein ganz wenig wässrig.
Als sie Kind war, und auch als junge Frau noch, war das soziale Leben in Bolschoi Koty sehr lebendig. Die damals knapp 100 Einwohnern und die wenigen irkutzker Sommergäste trafen sich jeden Tag von 21-24 Uhr im Club. Strom kam damals vom Generator, genau für diese 3 Stunden. Man schaute zusammen Filme, hörte Konzerte, gespielt von den Biologiestudenten, die die Forschungsstation am Ortseingang für ein paar Monate besuchten, tanzte, plauderte, hatte Spass. Damals wurde noch der Sand vor Bolschoi Koty nach Gold gewaschen. Ganz früher per Hand von japanischen und deutschen Kriegsgefangenen, später per Maschine.
Natascha hüpft beim Erzählen auf ihrem Stuhl hin und her. Die Liebe zu diesem Ort strömt aus jeder Pore ihres Elfen-Kobolt-Bauarbeiter-Körpers. Als die Goldwäsche 1979 eingestellt wurde ging es bergab. Mit dem sozialen Leben. Feste Einwohner gingen, mehr Sommerhäuser entstanden. Den Club gibt es nicht mehr. Nur die Forschungsstation ist geblieben. Mit dem permanenten Strom kamen Fernseher, Internet und alle bleiben jetzt zu Hause. Für sich.
Ihr Gesicht verändert sich leicht, fast ein Anflug von Schmerz um ihren grossen Mund. Aber keine Resignation. Keine Verzweiflung. In Russland war es sehr hart, in den 90ern. Viele konnten ihre Familien nicht ernähren, erzählt sie, jetzt mit dem neutralen Gesichtsausdruck einer Journalistin. Sie kam trotzdem jeden Sommer für mehrere Monate. Mit ihren Eltern. Dann mit ihren Kindern. Jetzt auch mit deren erstem Kind, Marianna, 11 Monate alt. Levi und Marianna haben Stunden heute zusammen gespielt. Marianna hat schon kapituliert, Levis Augen folgen Nataschas Bewegungen.
Bevor es das Chalet gab, in dem ich jetzt wohne und das sie mit ihrer Familie betreut, hatten sie Sommergäste in ihrem kleinen Sommerhaus. Mit Plumpsklo, einfach, urig. Wie hier alle leben. Ausser wir im Chalet, mit fliessend Wasser, normalen Toiletten, Elektroheizung fuer die auch im September eisigen Nächte.
Auch hierzu wieder ein neutraler Gesichtsausdruck.
Sie verstummt kurz, lächelt nach Innen, schaut mich an, ich schaue zurück, diesmal das Wasser auf meiner Seite und fühle mich so zu Hause. In der Küche, beim Bratkartoffeln essen mit dieser aussergewöhnlichen Frau. Levi gibt auf. Für den Rest von uns wird der Abend noch lang. Russland, zumindest Sibirien, scheint von Frauen im besten Alter zusammengehalten zu werden.
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"I am Julia", lache ich ihr entgegen, "and this is Levi", und hüpfe mit Levi im Babybjoern von Bord des Kutters, der uns in der letzten Stunde von Listwjanka nach Bolschoi Koty getuckert hat. Bei ordentlichem Wellengang und steifer Brise vom See. Aber ohne Regen. Trotz gegenteiliger Vorhersage.
Bis gestern morgen wollte ich die Reise hierher wegen Angst vor starkem Seegang, Kälte und Abgeschiedenheit - nach Bolshoi Koty führt keine Strasse, nur per Boot oder entlang eines kraxeligen Küstenwanderweges ist der kleine Ort mit dem Rest der Welt verbunden- und weil mir noch das Krankenhauserlebnis und die Angst um Levi in der Seele sass, noch abblasen. Jetzt spüre ich wieder Adrenalin in meinem Körper. Abenteuergeist. Levis Hände weisen kaum noch Spuren der Verwüstung auf. Ein paar schwarze Punkte, die ich fleissig mit Heilsalbe und Küssen pflege. Der tapfere Zwerg.
Levi greift nach Nataschas Zopf. Draussen ist es fast dunkel. Levi sitzt grinsend in Mariannas, der Enkelin von Natascha, Babysitz. Der ist angeschraubt an der Küchentheke, an der Natascha gerade Bratkartoffeln brutzelt. In viel Butter. Sie erzählt dabei. Ihr Zopf wippt hin und her. Am Ende kein Haargummi, sondern in alle Richtungen abstehende Haarsträhnen. Levi hat die wippende Bewegung einige Momente mit offenem Mund beobachtet. Jetzt lacht er wie ein zufriedener Opa, eine rote Strähne fest zwischen seinen kleinen Händen.
Ohhhhh, Leeeeevi, Natascha tanzt in ihren Plastikcrocks um Levi herum, genau in dem Radius, dass er die Haare fest im Griff behalten kann. Ausfallschritt rechts, Ausfallschritt links, ihre blauen Augen weit aufgerissen, Wangen auggeblasen, Luft rausschnaubend hüpft sie wie ein fröhlicher Gartenzwerg herum. Levi ist verliebt. Ich auch.
Wir bleiben in der Küche und essen zusammen. Nataschas Tochter hat Archaeologie studiert. Und hat vor kurzem umgeschult auf Köchin. Marianna ist promovierte Chemikerin. Sie forscht in Irkutzk über Gifte (mehr hab ich nicht verstanden). Die Brille passt zu diesem Aspekt ihrer facettenreichen Persönlichkeit, denke ich. Seit ihrer Kindheit kommt sie im Sommer nach Bolschoi Koty. Während sie das erzählt, werden ihre Gesichtszüge ganz weich. Faltenfrei. Eine elfenhafte Aura umgibt diese Frau, die richtig anpacken kann.
Sie träumt davon, nach ihrer Pensionierung ganz nach Bolschoi Koty zu ziehen. Hier ist das Leben zwar voller körperlicher Arbeit, Gemüse pflanzen, ernten, Kochen, Haus in Schuss halten, und bei der extremen Witterung-Stürme, Regen, Schnee, Minus 40 Grad im Winter - ist da viel zu tun, aber dennoch nicht so ermüdend wie in der Stadt. Sie lächelt für sich, da sie weiss, was sie als nächstes sagen wird, es aber noch nicht gesagt hat. Überlegt, ob sie es sagen soll. Die Arbeit hier ist voller Sinn, sagt sie. Nicht so wie in der Stadt. "Ich liebe die Natur hier". Jetzt lächelt sie mich an, ihre Augen werden ein ganz wenig wässrig.
Als sie Kind war, und auch als junge Frau noch, war das soziale Leben in Bolschoi Koty sehr lebendig. Die damals knapp 100 Einwohnern und die wenigen irkutzker Sommergäste trafen sich jeden Tag von 21-24 Uhr im Club. Strom kam damals vom Generator, genau für diese 3 Stunden. Man schaute zusammen Filme, hörte Konzerte, gespielt von den Biologiestudenten, die die Forschungsstation am Ortseingang für ein paar Monate besuchten, tanzte, plauderte, hatte Spass. Damals wurde noch der Sand vor Bolschoi Koty nach Gold gewaschen. Ganz früher per Hand von japanischen und deutschen Kriegsgefangenen, später per Maschine.
Natascha hüpft beim Erzählen auf ihrem Stuhl hin und her. Die Liebe zu diesem Ort strömt aus jeder Pore ihres Elfen-Kobolt-Bauarbeiter-Körpers. Als die Goldwäsche 1979 eingestellt wurde ging es bergab. Mit dem sozialen Leben. Feste Einwohner gingen, mehr Sommerhäuser entstanden. Den Club gibt es nicht mehr. Nur die Forschungsstation ist geblieben. Mit dem permanenten Strom kamen Fernseher, Internet und alle bleiben jetzt zu Hause. Für sich.
Ihr Gesicht verändert sich leicht, fast ein Anflug von Schmerz um ihren grossen Mund. Aber keine Resignation. Keine Verzweiflung. In Russland war es sehr hart, in den 90ern. Viele konnten ihre Familien nicht ernähren, erzählt sie, jetzt mit dem neutralen Gesichtsausdruck einer Journalistin. Sie kam trotzdem jeden Sommer für mehrere Monate. Mit ihren Eltern. Dann mit ihren Kindern. Jetzt auch mit deren erstem Kind, Marianna, 11 Monate alt. Levi und Marianna haben Stunden heute zusammen gespielt. Marianna hat schon kapituliert, Levis Augen folgen Nataschas Bewegungen.
Bevor es das Chalet gab, in dem ich jetzt wohne und das sie mit ihrer Familie betreut, hatten sie Sommergäste in ihrem kleinen Sommerhaus. Mit Plumpsklo, einfach, urig. Wie hier alle leben. Ausser wir im Chalet, mit fliessend Wasser, normalen Toiletten, Elektroheizung fuer die auch im September eisigen Nächte.
Auch hierzu wieder ein neutraler Gesichtsausdruck.
Sie verstummt kurz, lächelt nach Innen, schaut mich an, ich schaue zurück, diesmal das Wasser auf meiner Seite und fühle mich so zu Hause. In der Küche, beim Bratkartoffeln essen mit dieser aussergewöhnlichen Frau. Levi gibt auf. Für den Rest von uns wird der Abend noch lang. Russland, zumindest Sibirien, scheint von Frauen im besten Alter zusammengehalten zu werden.
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